Palast der blauen Delphine
aller Mysterien. Erinnerst du dich noch an die Schöpfungsgeschichte, die ich dir erzählt habe, als du ein Kind warst?«
Große Göttin, laß sie nicht sterben! betete er inbrünstig. Ich weiß nicht, was ohne sie werden soll.
»Natürlich! Ich konnte sie nicht oft genug hören.« Die Erinnerung daran ließ ihn verstummen. Vor ihm stieg das strohgedeckte Haus seiner Kindheit auf. Fast meinte er wieder das Rauschen des Windes zu hören.
»Dann sprich«, bat sie ihn. »Erzähl du sie mir jetzt!«
»Am Anfang aller Dinge tauchte die Große Mutter aus dem Chaos«, begann er stockend. »Liegst du auch wirklich bequem?«
»Bitte, Asterios, sprich weiter!«
»Aber Sie fand nichts Festes, worauf Sie Ihre Füße hätte setzen können. Daher trennte Sie das Meer vom Himmel und tanzte übermütig auf seinen Wellen. Hinter Ihr erhob sich der Wind. Ihn rieb Sie zwischen Ihren Händen, und siehe: Es war Ophion, die Große Schlange. Und Sie tanzte, um sich zu erwärmen, wild und immer wilder, bis die Schlange, die lüstern dabei geworden war, sich um Ihre göttlichen Glieder schlang, und sich mit Ihr paarte.«
»Weiter, ich will deine Stimme hören«, drängte Merope.
»Dann nahm Sie die Gestalt einer Taube an«, fuhr er fort und sah erschrocken, wie ein Hustenanfall sie schüttelte.
»Keinen Honigsud jetzt, und kein Minzöl«, krächzte sie kraftlos. Asterios stellte die Fläschchen wieder auf den kleinen Tisch zurück, der neben ihrem Bett stand. »Erzähle, Sohn meines Herzens, bitte erzähle!«
»Als Taube ließ Sie sich auf den Wellen nieder«, setzte Asterios erneut an. »Dort legte Sie das Weltei. Auf Ihren göttlichen Willen hin wand sich die Schlange siebenmal um das Ei, bis es ausgebrütet war und aufsprang. Aus ihm fielen die Sonne, der Mond und die anderen Planeten, unter ihnen die Erde …« Er brach angespannt ab.
»Noch atme ich«, versicherte sie ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Weiter, beeile dich!«
»Und Sie bildete die Täler und Berge und bedeckte sie mit Gras und Bäumen. Darüber setzte Sie die Wölbung des Firmaments, über und über besät mit glitzernden Sternen. Dann wies Sie den vier Winden ihren Platz zu und bevölkerte das Wasser mit Fischen, das Land mit Tieren. Und zuletzt …«
»… erschuf Sie den Menschen«, fuhr Merope mit brüchiger Stimme fort. »Das einzige unter allen Lebewesen, das im Gehen sein Gesicht zum Himmel erheben und die Sonne, den Mond und die Sterne betrachten kann.«
Ihre Stimme erstarb.
»Mutter!« rief Asterios entsetzt. »Geh nicht! Laß mich nicht allein!« Das Rasseln ihres schwerfälligen Atems schien in seinen Ohren zu dröhnen.
»Astro«, setzte sie mit schwindender Kraft an, »Astro, vergib! Wir haben dich nicht gefragt, als wir dich erwählten. Du warst unsere einzige Hoffnung und bist sie noch immer – der Lilienprinz, der die Pfauenkrone trägt, und die alte mit der neuen Zeit verbinden kann. Du bist stärker als sie alle, weil du die Kraft des Stiers in dir hast.« In Krämpfen bäumte sie sich auf. »Rette Kreta! Laß nicht zu, daß Minos oder andere alles zerstören, was wir in Jahrhunderten errichtet haben.« Sie zog ihn zu sich heran. »Höre nicht auf die anderen. Selbst ich kann nur sehen, was Sie gestattet. Vertraue nur einem – dir selbst und der inneren Stimme, die dich führt …« Erschöpft fiel sie in die Kissen zurück. »Wasser!« murmelte sie. »Allmächtige Mutter, steh mir bei! Ich sehe die große Schlange … Mirtho, Pasiphaë … es wird so dunkel …«
Wie von Sinnen sprang er auf und eilte hinaus. Vor der Türe warteten Pasiphaë und Mirtho; neben ihnen kauerte mit rotgeweinten Augen Phaidra auf dem Boden.
»Kommt schnell, sie verläßt uns!«
Merope starb, als die Sonne hinter den Hügeln von Knossos versank. Phaidra ging zum Fenster und zog das blaue Tuch beiseite, das dem Sterbezimmer tagsüber wohltuendes Dämmerlicht geschenkt hatte. Dann kehrte sie an das Lager zurück, wo Pasiphaë der Toten eine goldene Münze als Fährgeld auf die Zunge legte. Mirtho, die Schwester, band ihr mit einem Leinenstreifen das Kinn hoch. Schweigend standen die drei Frauen um das Bett und beteten leise. Sie schienen Asterios vergessen zu haben, bis schließlich Mirtho zu ihm trat und ihm sanft übers Haar strich.
»Niemanden hat sie so geliebt wie dich. Es war ein schwerer Kampf – es fiel ihr nicht leicht, dich der Frau zurückzugeben, die dich geboren hatte.« Pasiphaë hob aufmerksam ihren Kopf. Ihre Amme sprach unbeirrt
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