Palast der blauen Delphine
verläßt uns?« fragte Hatasu erschrocken. »Du reitest nach Knossos?«
Asterios nickte. »Ich muß zum Palast der blauen Delphine. Ich muß sehen, was dort passiert ist. Ich kann nicht länger in Ungewißheit leben.«
»Ich komme mit!« rief Deukalion impulsiv. »Schließlich ist es ja auch meine Familie.«
»Du nützt allen am meisten, wenn du hier bleibst«, widersprach Asterios. »Ein großes Opfer, ich weiß, aber ein notwendiges.«
Deukalion biß sich auf die Lippen. »Na gut«, sagte er schließlich zögernd. »Ich laß dich nicht gern ziehen. Hoffentlich bist du bald zurück!«
»Ich gehe mit dir«, sagte Hatasu rasch. »Nein, keine Widerrede! Nur mein Tod könnte mich davon abhalten!«
Und so brachen sie schließlich auf, auf zwei schwächlichen Pferden, für die sie den Rest des Futtervorrates geplündert hatten, zu einer Reise in das Reich der Finsternis, die sie von einem Schrekken zum nächsten führte. Die Dörfer an den Berghängen waren weitgehend verwüstet, Mauern zerbrochen, uralte Bäume entwurzelt. Die Weinstöcke verbrannt, Olivenhaine geknickt, Felder dem Erdboden gleichgemacht. Alles Gras war verschwunden, die kahlen Äste der stehengebliebenen Bäume von Asche weiß wie nach einem Schneesturm.
Am schlimmsten war der Anblick der Leichen, Frauen, Männer, Kinder, nackt, mit aufgeplatzten Bäuchen und Schädeln, halb angefressen von verwilderten, schwerverletzten Tieren.
»Das ist das Ende von Kreta«, murmelte Asterios. »Das Ende unserer schönen, glücklichen Welt. Phaidra hatte recht. Die Große Mutter liebt uns nicht mehr. Sie hat beschlossen, uns für immer zu verstoßen.«
Der Palast der blauen Delphine war ein riesiger Trümmerhaufen. Überall Löcher, wo sich früher Fenster zur Landschaft geöffnet hatten. Sie kamen kaum vorwärts. Der Boden war übersät mit verkohltem Holz, zerbrochenem Mauerwerk, den Bruchstücken der aberhundert Doppelhörner, die so lange die Macht des Stiers verkündet hatten. Es war beinahe unmöglich, sich in dem rußgeschwärzten Chaos zurechtzufinden. In diesem Zustand der Auflösung glich der große Palast mehr denn je dem Labyrinth, für das ihn viele der Unwissenden gehalten hatten. Hatasu suchte nach einer Spur von Aiakos; Asterios stapfte verzweifelt in den Trümmern umher.
Schließlich war er bei den Quadern des Innenhofes angelangt. Hier schien das Feuer ganz besonders stark gelodert zu haben, ebenso wie im Magazintrakt. Stockend ging er weiter, bis er an einen Leichnam stieß, der unter einem zerbrochenen Doppelhorn begraben lag. Das zerquetschte Gesicht konnte er nicht erkennen. Aber als er ein rotes Gewand und dunkle Haare erkannte, wußte er genug. Wie betäubt trat er ein paar Schritte zurück und entdeckte nahe dem Türrahmen eine zweite, kleinere Leiche, die beinahe vollständig verbrannt war. Trotzdem wußte er, daß er Mirtho gefunden hatte. Sie war bis zum letzten Atemzug bei Pasiphaë geblieben. Niemals hätte sie sie verlassen.
Der Schmerz war so überwältigend, daß er ihm den Atem nahm. Er sah nicht länger die Scherben und Splitter, die Steine und Bruchstücke. Plötzlich wußte er, daß auch all die anderen tot waren. Erschlagen, zerschmettert, verbrannt wie sie. Daß kein einziger von ihnen diesen Weltuntergang überlebt haben konnte. Die Große Mutter hatte sie verstoßen wie eine Horde ungeliebter Kinder.
Seine Hand wurde schwer, und auf einmal hatte er das Gefühl, wieder die Stiermaske zu spüren. Er lebte. Er war Theseus’ Mordanschlag im Labyrinth entkommen. Er war durch den Ascheregen getaumelt, der die meisten getötet hatte. Aber wozu noch atmen, jetzt, da alle tot waren, die er geliebt hatte? Da er keine gütige göttliche Kraft mehr spürte, die über ihnen allen waltete?
Er hob seinen Blick und starrte über das Leichentuch hinweg, das noch vor wenigen Tagen eine fruchtbare Ebene gewesen war. Er sah die salzigen Spuren der Flutwelle, die sich mit der Asche zu Schlamm vermischt hatte. Nichts atmete mehr darunter. Ihre Zukunft war gestorben in dem Augenblick, in dem der schwarze Berg zu grollen begonnen hatte.
Er würde nicht mehr zurückreiten zu den anderen und sie mit den schrecklichen Nachrichten quälen. Zum Sterben waren sie allesamt verdammt. In ihm gab es nur noch den Wunsch, denen nachzufolgen, die vor ihm gegangen waren – Ariadne, Merope, Mirtho, Pasiphaë. Er wünschte sich nichts so sehr wie den Tod.
Langsam, wie in Trance, begann er sich bis auf den Schurz zu entkleiden. Er ließ sich
Weitere Kostenlose Bücher