Palast der blauen Delphine
bekräftigte Asterios. »Weißt du, was das bedeutet? Es geht los! Es hat soeben begonnen! Wo sind die anderen hin? Der Athener? Ion und Satos?«
»Wahrscheinlich zum Tempel gegangen. Sie waren zu fünft. Sie führten einen mit sich, der gefesselt war«, antwortete der Neuankömmling.
»Dann laß uns augenblicklich die Mysten zusammenrufen!« forderte Asterios. »Sie wissen schließlich, worauf es ankommt. Mit ihnen zusammen sind wir stark genug, um die Verblendeten zur Vernunft zu bringen.«
Hatasu und der junge Kreter tauschten verlegene Blicke. »Es sind nicht mehr allzuviele da«, erwiderte sie schließlich. »Nicht mehr als drei junge Männer und ein Mädchen aus Chalara. Die anderen sind gestern abend heimlich zurückgeritten. Um ihre Familien zu warnen und in Sicherheit zu bringen.«
»In Sicherheit bringen – diese Verrückten! Dort unten erwartet sie der sichere Tod in der Ebene!« Er überlegte. »Nur noch vier, sagst du? Das ist nicht viel. Versuchen wir es trotzdem! Wir müssen alles tun, um dieses Verbrechen zu verhindern!« Er wandte sich an den jungen Mann. »Sag den Leuten, daß sie sofort möglichst viele Tücher befeuchten und die Höhleneingänge damit verhängen sollen. Und schleppt alles Eßbare ganz nach hinten. Teilt zur Vorsicht ein wenig von dem Wein aus, den wir für Notfälle aufgehoben haben. Sonst bleibt nur noch Hoffen und Beten. Wenn ich wieder zurück bin, werde ich der Göttin opfern.«
»Komm, meine geliebte Susai!« Er streckte seine Hand nach Hatasu aus. »Laß uns gemeinsam versuchen, zu retten, was noch zu retten ist.«
Als die Nacht viel zu früh über Kreta hereingebrochen war, sahen die Bäuerinnen, Fischer und Hirten, die angsterfüllten Menschen in den Städten und den einsamen Bergdörfern, im Norden einen riesigen bläulichen Kern am Himmel stehen. Um ihn schossen Dampfstrahlen senkrecht empor. Asche rieselte schon seit mehreren Stunden herab, ein heißer Regen, vermischt mit Lavabrocken. Grelle Blitze durchzuckten die Finsternis.
Keiner auf der Insel fand Schlaf oder Ruhe. Zunächst suchten die Menschen Schutz in ihren Häusern. Sie verbarrikadierten sich hinter kleinen Steinwällen und verrammelten die Fenster. Die Dächer hielten der schweren Asche, den Lavaschlacken und Bimssteinteilchen nicht lange stand. Die Dachbalken brachen.
Dann kamen die ersten heftigen Erdstöße. Jetzt gab es nur noch die Flucht ins Freie. Wer laufen konnte, lief, Decken zum Schutz gegen den prasselnden Gesteinsregen auf die Köpfe geschnallt, nach draußen. Fliehen oder sterben, raus aus den einstürzenden Häusern und Hallen, aus den Straßen, wo Aschenschlamm und Geröll das Vorwärtskommen immer schwieriger machten. Hinaus aus den Städten und Dörfern. Eine wilde Flucht über plötzlich aufbrechende Erdspalten begann. Unablässig war das Geklingel gleitender, fallender Steine zu hören, begleitet vom Prasseln der vielen Feuer. Heiße Asche klebte an Händen und Füßen, überall lagen gestürzte Tiere und Menschen übereinander.
Ähnlich verzweifelt wie in den großen Städten war es auch im Palast der blauen Delphine zugegangen. Die meisten der Diener und Wachposten hatten das Gebäude fluchtartig verlassen und suchten irgendwo draußen mit ihren Angehörigen Schutz. Nur ein paar waren zurückgeblieben und harrten zusammen mit der Königsfamilie im Westtrakt aus.
Pasiphaë, Minos, die Söhne und Töchter waren schließlich im Thronsaal versammelt. Mirtho und Aiakos stießen ebenfalls zu ihnen. Die Königin hatte eine kleine Opferung vorbereitet, aber noch nicht mit der Zeremonie begonnen. Glaukos fehlte. Keiner wußte, daß er mit einer Fackel in die Magazine gelaufen war, wo er tags zuvor den Lieblingsbogen seines Bruders versteckt hatte. Er kam nicht mehr dazu, ihn zu bergen. Der nächste Erdstoß streckte ihn nieder. Er fiel so unglücklich, daß er mit dem Kopf an einen der riesigen Tonkrüge schlug. Das Feuer züngelte auf dem Boden entlang, dort, wo beim Umfüllen der Ölvorräte eine glänzende Spur entstanden war. Nicht lange, und der ganze Raum stand in Flammen. Glaukos, noch immer ohnmächtig, merkte nichts davon.
Katreus mochte nicht länger untätig sitzen und warten. »Ich gehe ihn suchen«, sagte er schließlich. »Irgendwo muß er ja stecken.«
»Aber sei vorsichtig!« rief Pasiphaë ihm nach und zuckte zusammen, als abermals Donnersalven losbrachen. »Sollten wir nicht lieber alle zusammen bleiben? Spürt ihr nicht, wie die Erde bebt? Steh uns bei, Große
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