Palast der blauen Delphine
verhindern. Jesa und ihre Schreiberinnen hatten lange Listen anfertigen müssen, auf denen die Schäden verzeichnet waren. »Und doch haben sie uns etwas in großer Fülle voraus: kostbare Erze.«
»Sei bloß still!« Minos wandte sich um, um sicherzugehen, daß keiner der Athener etwas von ihrer Unterhaltung mitbekommen hatte. Aber Aiakos hielt seine Position, und die Reiter machten keine Anstrengung, sie einzuholen. »Kein Wort darüber während unseres Aufenthalts! Nur so viel jetzt, damit dir am attischen Hof keine unbedachte Bemerkung entschlüpft: Wir sind beinahe so weit! Daidalos’ neuer Ofen kann, wie es aussieht, hohe Temperaturen halten, sogar über einen langen Zeitraum. Damit ist die wesentliche Voraussetzung für die Gewinnung und das Schmelzen von Eisen erfüllt.«
»Daidalos bedeutet nicht Kreta, und hat keinen Zugang zu diesen Schätzen«, kommentierte Jesa, die unbemerkt aufgeschlossen hatte und Bruchstücke der Unterhaltung mitangehört haben mußte. »Sie werden sich hüten, uns etwas davon abzugeben! Und wozu auch? Die Insel der Großen Mutter bleibt auch ohne attische Erze stark und mächtig!«
Minos warf ihr einen raschen Blick zu. »Ich bin sicher, die Athener werden diese Frage differenzierter betrachten, wenn wir erst mit ihren Kindern sicher auf Kreta gelandet sind. Sieben aus der letzten Mystengruppe wollten gar nicht mehr nach Hause zurück. Könnten dieses Mal noch mehr werden, glaubt ihr nicht?«
»Du bist ein Fuchs, Minos«, erwiderte Jesa mit widerwilliger Anerkennung. »Ich hoffe nur, deine Klugheit wendet sich nicht eines Tages gegen dich – und gegen Kreta.«
»Zum Glück hat die Göttin mir so aufrechte Menschen wie dich an die Seite gegeben.« Er spornte seinen Rappen an und ritt auf der staubigen Straße der Polis entgegen. Schmutzigbraune Lehmbauten und ein paar versprengte Steinhäuser mit Binsendächern duckten sich wie eine ängstliche Vogelschar im Schutz des Hügels, auf dem die Burg saß.
»Das soll der Sitz des Königs von Athenai sein?«
Ungläubig starrte Deukalion auf die rohen Steinmauern, die vor ihnen aufragten. Für ihn war es der erste Besuch der Stadt, in der sein Bruder Androgeus vor vielen Jahren den Tod gefunden hatte. Seit jenem Verbrechen war Athenai Kreta tributpflichtig, mit dem Teuersten und Wertvollsten, was die Stadt zu bieten hatte – ihren adeligen Kindern. Deukalion war sofort einverstanden gewesen, als sein Vater ihn dieses Mal zum Mitkommen aufgefordert hatte. An seiner Seite sollte er die Auswahl der künftigen Mysten erleben. Der Anblick dieser plumpen Mauern, die ihm wie das ungeschlachte Werk von Zyklopen vorkamen, machte ihn plötzlich nachdenklich.
»Das ist er«, bekräftigte Minos und schien sich an seiner Verblüffung zu weiden. »Du stehst vor einer bewehrten Burg, die hier auf dem Festland ihresgleichen sucht. Achte auf deine Worte, mein Sohn, denn diese Männer sind unberechenbar! Halte dich zurück; ich wünsche keine Provokationen, die unser Vorhaben gefährden könnten.« Er sah ihn so durchdringend an, daß Deukalion unwillkürlich nickte. »Das gilt auch für euch!« wandte sich Minos an sein Gefolge. »Benehmt euch wie echte Kreter – höflich und beherrscht!«
»Meinst du mit deiner Warnung nicht vor allem dich selbst?« warf Jesa respektlos ein.
Bevor Minos noch die passende Antwort gefunden hatte, öffnete sich das beschlagene Tor, und die kretische Gesandtschaft wurde eingelassen.
Strongyle
Asterios und Ikaros saßen mit den Priesterinnen im Frauenhaus zusammen. Ein Feuer sorgte für wohlige Wärme, denn die Frühlingsnächte waren noch immer kühl. Auf den Tischen vor ihnen standen Teller mit Käse, Salzkuchen, frischem Bohnenmus, getrockneten Feigen und Datteln. Dazu einige Karaffen Vulkanwein, eine Spezialität der Insel. Fleisch gab es nur zu besonderen Anlässen.
Das Gespräch verlief etwas verkrampft, was Asterios schon von Kreta her kannte. Auch dort waren die Priesterinnen noch immer nicht an die Anwesenheit eines Mannes in ihrer Mitte gewohnt. Unterhaltungen verstummten, wenn er eintrat, und obwohl er kein Wort darüber verlor, entgingen ihm die Zeichen nicht, die sie sich heimlich untereinander machten. Die Prophezeiung des zukünftigen Lilienprinzen war eine Sache, eine andere war, mit ihm in Fleisch und Blut konfrontiert zu sein. Zumal er einen eigenen Willen besaß und mehr und mehr den Anspruch stellte, bei allem miteinbezogen zu werden, was den Dienst an der Großen Mutter betraf.
Auch hier
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