Palast der blauen Delphine
Priesterinnen beratschlagen, was weiter zu geschehen habe.
Ängstlich sah der kleine, dicke Mann zu Asterios empor. »Hoffentlich sind nicht alle Netze zerrissen. Es wäre ein Jammer, wenn alle Purpurschnecken verloren wären!«
»Hältst du es für den passenden Augenblick, jetzt an Profit zu denken?« fragte Ikaros. Für seinen Geschmack war Iassos zu laut und plump, und er machte keinen Hehl aus seiner Abneigung. »Anstatt an die Not und das Unglück der Menschen?«
»Du hast gut reden!« Iassos setzte eine trotzige Miene auf. Der junge Athener mit den nachdenklichen Augen brachte ihn immer wieder in Verlegenheit. »Soll ich der Königin vielleicht raten, ihre Kultgewänder mit Hennapulver färben zu lassen?«
»Hört auf mit dem Gezeter!« fuhr Asterios dazwischen. »Die ganze Fahrt über habt ihr nichts anderes getan, als aufeinander herumzuhacken!«
Die Tage auf See, teils unter Sprühregen, teils unter heißer Sonne, hatten sie alle reizbar und empfindlich gemacht. Die Enge hatte ihnen zugesetzt, und da es wegen der leichten Schiffskonstruktion an Bord kein Feuer gab, mußten sie sich von Oliven, Fladenbrot und getrocknetem Fleisch ernähren. Zudem war das Wasser rationiert, weil man nicht sicher sein konnte, bei Zwischenlandungen auf Süßwasserquellen zu stoßen.
»Vergeßt nicht, daß wir hergekommen sind, um zu helfen, nicht um zu streiten«, setzte er schließlich hinzu.
Ikaros schwieg, Iassos machte ein beleidigtes Gesicht und zog sich zurück. Asterios wußte, daß seinen Vermittlungsversuchen Grenzen gesetzt waren. Der Konflikt würde bei der nächsten Gelegenheit wieder aufbrechen. Die beiden waren zu unterschiedlich! Achselzuckend wandte er sich ab und sah dem Steuermann zu, der mit lauten Kommandos die Ruderer an den Salinen Akrotiris vorbei in das Hafenbecken dirigierte.
Wenig später gingen die beiden Freunde auf den gepflasterten Straßen zum Haus der Priesterinnen. Inzwischen war es Nacht geworden, und auf fast allen Dächern flackerten Lichter. Die Stadt war großzügig angelegt und konnte es mit ihren öffentlichen Brunnen und leicht erhöhten Gehwegen mühelos mit Chalara oder sogar Knossos aufnehmen. Aber es waren erstaunlich wenig Menschen unterwegs.
Von der See kam eine frische Brise, der Geruch nach Tang und Salz, den Ikaros begeistert einsog. »Welch ein Aroma!« rief er schwärmerisch. »Ich wollte, ich könnte immer am Meer leben!«
Asterios blieb stumm.
»Was ist los?« fragte Ikaros besorgt. »Was hast du auf einmal?«
»Spürst du nichts?« Asterios war unvermittelt stehengeblieben. »Siehst du nichts?«
»Überall Schutt. Reste des Erdbebens.«
»Ich kann die Gefahr wittern«, flüsterte Asterios. »Ich rieche die Angst der Menschen, die aus ihren Häusern geflohen sind. Ich sehe die Panik in ihren Gesichtern. Die Gefahr ist nicht vorbei! Der Berg kommt wieder«, rief er plötzlich so laut, daß Ikaros zusammenzuckte. »Das Beben war nur eine Warnung.« Ungeduldig zerrte er seinen Begleiter in eine Seitenstraße. »Sieh nur, was sie hier anstellen!«
Ein paar Männer waren damit beschäftigt, Steine und zerborstene Giebelstücke wegzuräumen, die die Straße blockiert hatten. Andere zogen im Schein mehrerer Ölfunzeln an dicken Seilen ein Holzgerüst nach oben.
»Sie machen sich an die Arbeit, als wäre nichts geschehen. Sie haben nichts begriffen! Wenn der Vulkan wieder erwacht, dann sind alle Bauten nutzlos. Der Berg läßt Feuer und Asche regnen, und alle werden sterben!«
»Beruhige dich doch, Asterios!« Ikaros deutete auf die vielen Fassaden, die unversehrt geblieben waren. »Die Leute hier sind an Erdbeben gewöhnt und haben spezielle Bautechniken entwickelt. Vor ihrem Können hat sogar mein Vater Respekt. Was ist schon geschehen? Keine Toten, kaum Verletzte, nur ein paar eingestürzte Häuser. Und die werden sie bald wieder aufgebaut haben. Schöner als zuvor, wie ich sie kenne.«
»Und die Schäden im Heiligtum? Der zerstörte Tempel?« Seine Stimme überschlug sich beinahe.
Ikaros sah ihn fest an. Die Zeit war gekommen, um alle Halbwahrheiten zwischen ihnen zu beseitigen. »Der Tempel, den Ariadne hütet, willst du sagen. Deshalb bist du hergekommen«, entgegnete er ruhig.
Asterios war blaß geworden und erinnerte ihn plötzlich wieder an den Hirtenjungen aus den Weißen Bergen, der vor fünf Jahren an den Hof gekommen war. Er hatte schon damals seine Besonderheit gespürt.
»Woher weißt du das?« fragte er gequält.
»Ich bin ein guter Beobachter.
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