Palast der Stuerme
beantwortete sich die Frage selbst: „Muss wohl passiert sein, als er in unserer Botschaft in London gearbeitet hat. Das war gleich nach meiner Hochzeit. Mein Vater riet dem Scheich, Raoul dorthin zu schicken. Der arme Raoul, er hat es nicht gut verkraftet, dass ich einen anderen heiratete. Ein hungriger Mann nimmt alles, was er in die Finger bekommen kann. Und eine kluge Frau macht das Beste aus den Chancen, die sich ihr bieten. Ist es nicht so, Claire? Eine Frau wie Sie kann nicht viele Männer gehabt haben. Aber Sie waren clever genug, um den einen Köder auszuwerfen, nach dem er garantiert schnappen würde. Ist das hier sein Kind? Der Junge ähnelt ihm nicht sehr. Wo, sagten Sie, haben Sie sich getroffen?“
Saud, der sich auf die Füße gezogen hatte, fiel hin und begann zu weinen. Automatisch beugte Claire sich hinunter, um ihn hochzuheben. Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass Raoul zurück war. Mit langen Schritten kam er in ihre Richtung. Nadia stand mit dem Rücken zu ihm, und Claire fragte sich, ob sie die Begrüßung zwischen Raoul und Nadia würde aushalten können. Doch als Nadia sich umdrehte und Raoul ansah, stand in dessen Augen nichts anderes als kühle Höflichkeit.
„Raoul …“ Nadia schlang die Arme um seinen Nacken und bot ihm ihren Schmollmund zum Kuss.
Claire wandte den Blick ab, um die Eifersucht zu unterdrücken. „Prinzessin Nadia fragte gerade, ob wir uns in der Londoner Botschaft kennengelernt haben“, sagte sie bewusst heiter. Sollte er sich doch selbst die Lügen und Erklärungen ausdenken. Nadia würde ihn sicher hinterher zur Rede stellen, schließlich waren sie seit Jahren ein Liebespaar. Und ganz offensichtlich schien sie in Claire keine wirkliche Konkurrenz zu sehen.
Claire betrachtete unauffällig Saud. Er sehe nicht aus wie Raoul, hatte Nadia gesagt. War das ein Grund, sich Sorgen zu machen? Grüblerisch kaute Claire an ihrer Lippe, als sie Raoul sagen hörte: „Als ich in Paris arbeitete, nicht in London.“
„Ja, natürlich“, stimmte Nadia hastig zu, „das sagte ich auch. Claire muss mich missverstanden haben. Es war gleich nach meiner Hochzeit, nicht wahr? Wir haben dich ja damals auf unserer Hochzeitsreise besucht. Und wo genau habt ihr euch getroffen?“
„Auf der Party eines gemeinsamen Freundes“, erwiderte Raoul gelassen. Er beugte sich vor und hob Saud auf, der fröhlich mit Armen und Beinen strampelte. Es gab nicht die geringste Unsicherheit in der Art, wie er mit dem Baby umging. Keiner, der zusah, würde daran zweifeln, dass Saud sein Kind war.
Da es sehr warm war, trug Saud lediglich seine Windel, und er trat begeistert mit beiden strammen Beinchen in die Luft. Auf seinem linken Bein hatte er ein Muttermal, und unwillkürlich fiel Claires Blick darauf. Auch Nadias Augen wanderten zu dem dunklen Fleck, und plötzlich schien es, als wäre die Temperatur in dem schattigen Hof um Grade gesunken. Claire bekam eine Gänsehaut, die schrecklichen Bilder der letzten Nacht drängten sich ihr wieder auf.
Raoul bemerkte es sofort. „Geht es dir nicht gut?“, erkundigte er sich scharf.
„Nein, ich … alles bestens.“ Wie sollte sie das jähe ungute Gefühl begründen? Es gab keine logische Erklärung dafür. So war sie erleichtert, als Nadia kurz darauf verkündete, es sei Zeit für sie zu gehen, und Kaffee und Mandelgebäck, das Claire anbot, ablehnte.
„Viel zu viele Kalorien“, sagte sie abfällig, und es war sicher kein Zufall, dass sie sich dabei mit der Hand über die Hüften strich. Sie wollte Raouls Aufmerksamkeit auf ihre verführerischen Kurven lenken. Verglichen mit Nadia, kam Claire sich wie eine wässrige Schneeflocke auf einer dunkelroten Rose vor.
Sobald Nadia gegangen war, sagte Raoul, dass er noch ein wenig arbeiten müsse. Claire wollte ihm eigentlich von ihrem Verdacht erzählen, dass Nadia vermuten könnte, Saud sei nicht ihr gemeinsames Kind. Aber vielleicht hatte Raoul Nadia ja schon selbst eingeweiht. Allerdings … in diesem Falle hätte die Prinzessin das Thema doch wohl gar nicht erst aufgebracht, oder?
Doch im Moment war ihr das alles zu kompliziert, denn die unruhige Nacht verlangte ihren Tribut. Als Zenaide schließlich kam, um Claire zu fragen, was sie zum Abendessen wünschte, teilte sie ihr mit, sie sei nicht hungrig und werde früh schlafen gehen.
Saud hatte glücklicherweise seine gute Laune wiedergefunden. Er lachte und jubelte, als Claire ihn abends badete, und spielte fröhlich mit seiner Gummiente. Der Junge
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