Palast der Stürme
Stuhl zurück, und Roxane schob ihm das Haar aus der Stirn.
»Es tut mir leid, Roxane.«
Roxane schüttelte in der Dunkelheit den Kopf. Sie wollte jetzt nichts mehr von ihrem Vater hören. Wenn sie jetzt zusammenbrach, würde sie nicht mehr aufhören können zu weinen, denn plötzlich schien alles zusammenzukommen.
»Er hat dich und Sera geliebt. Er hat mir gesagt, dass …«
Roxane presste ihre Finger auf seine Lippen, stand von dem Stuhl auf, auf dem sie gesessen hatte, und setzte sich auf seinen Schoß. Leise stöhnend zog er sie an sich und küsste sie sanft auf die Stirn. Sie zog die Knie an und stützte die Füße auf die Lehne des Sessels. In ihrer unendlichen Trauer wünschte sie sich, wieder ein kleines Kind zu sein und beschützt, gehätschelt und getröstet zu werden, selbst wenn es nur für einen kurzen Zeitraum war.
Roxane saß mit angezogenen Knien auf dem Fensterbrett. Sie hatte sich ein Laken vom Bett geholt und sich darin eingehüllt. Ihre Füße steckten in dem losen Ende des Stoffs. Sie lehnte die Stirn gegen die Wand und starrte aus dem Fenster. Der Staub der Explosion von vor zwei Tagen hing immer noch in der Luft und trübte das Licht der Sterne am Nachthimmel. In der Ferne flackerten kupferrote Flammen am Horizont, die einem Sonnenaufgang ähnelten. Die Morgendämmerung zeichnete sich erst schwach mit einem silbernen Streifen am Himmel ab. Hinter ihr hörte sie Colliers leises Schnarchen. Er lag auf dem Rücken in Ahmeds Bett und holte den Schlaf nach, der ihm in den vorherigen Nächten versagt geblieben war. Er hatte einen Plan, den er ihr jedoch nicht verraten wollte, und war erleichtert und beruhigt eingeschlafen, als hätte er ein Schlafmittel genommen. Sera schlief in der Nähe auf einer Matratze. Ahmed hatte wieder einmal das Zimmer verlassen und sich eine andere Schlafgelegenheit gesucht; Roxane wusste nicht, wo und mit wem. Wahrscheinlich war es ein Ort, an dem ihm keine Fragen gestellt wurden.
Collier und sie hatten sich nicht geliebt – es schien nicht klug, und es eilte auch nicht. In ihrem Schmerz und mit den Erinnerungen an ihre albtraumhaften Erlebnisse wich sie jedoch kaum von seiner Seite. Nachts lag sie neben ihm, schmiegte sich an seine Brust und berührte seine Hüfte, um sich ohne Worte mit ihm zu verständigen. Sie spürte seinen Herzschlag und seine warme Haut, und es tröstete sie, wenn er geistesabwesend ihr Haar oder ihren Arm, der über dem Laken lag, streichelte. Ihre Bemühungen, ihn zu trösten, nahm er jedoch nicht an. Es dauerte nicht lange, bis sie erkannte, dass er fürchtete, das würde ihn schwächen.
»Ich will nach Hause«, hatte sie weinerlich in den frühen Morgenstunden der ersten Nacht zu ihm gesagt und sich angehört wie Sera.
Die Briten hatten für den Moment die befestigte Stellung auf dem Felsgrat verlassen und von den grauenhaften Ereignissen berichtet, die er selbst mit angesehen hatte. Roxanes Heim, das sie mit ihrem Vater geteilt hatte, lag in Schutt und Asche. Es gab nichts, wohin sie hätten zurückkehren können.
»Und Papa?«, hatte sie ihn gefragt.
»Ich habe ihn begraben«, hatte er ihr tonlos mitgeteilt. »Unter dem Boden von Cesyas Hütte. Dort wird er ungestört ruhen.«
Danach sprach Roxane kein Wort mehr. Nach einer Weile unterbrach er seine geistesabwesenden Zärtlichkeiten, legte seine Hand an ihre Seite, schlang seine Finger um ihre Hand an der Hüfte und schmiegte sich an sie.
»Ich liebe dich, Roxane.«
Sie schloss ihre Augen, und Tränen liefen ihr über die Wangen, obwohl sie beschlossen hatte, nicht mehr zu weinen.
Als Roxane jetzt auf dem Fensterbrett saß, genoss sie es, eine Weile nicht in Ahmeds Zimmer eingeschlossen zu sein und sich von allen Fenstern fernhalten zu müssen. Sie atmete tief die laue Luft der entschwindenden Nacht ein. Mit geschlossenen Augen flüsterte sie ein Gebet für diejenigen, mit denen sie an diesem dunklen Ort eingekerkert gewesen war. Fünfzig Menschen hatten sich dort in einem Raum aufgehalten, der nicht größer war als dieses Zimmer; fünfzig Menschen waren jetzt tot, während sie noch lebte. Dafür musste sie dankbar sein. Dafür, dass sie niemanden betrauern musste und nur kurz in Schwierigkeiten gesteckt hatte. Unter dem Pipalbaum hatten Kinder gestanden, die unter schrecklichen Umständen ums Leben gekommen waren.
Unbewusst fuhr sie sich mit der Hand über ihren Bauch. Collier wusste noch nichts davon, dass die Frauen und Kinder ermordet worden waren, da war sie sich sicher.
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