Palast der Stürme
wir mittags nur ein leichtes Mahl zu uns, aber das Frühstück ist immer sehr herzhaft und am Anfang gewöhnungsbedürftig. Das Abendessen wird nach Sonnenuntergang serviert. Dann kommt meistens eine kühle Brise auf, manchmal sogar starker Wind, und wir können das Haus durchlüften. Wir gehen oft spazieren, reiten oder hören uns ein Konzert der Regimentskapelle an. Wir sind hier alle eng miteinander verbunden. Ich meine, wir Europäer. Obwohl …« Sie senkte die Stimme. »Viele der Einheimischen sind sehr nett.«
»Ach ja?« Roxane war betroffen über die Art und Weise, in der Augusta ihre letzte Bemerkung gemacht hatte. An ihrer linken Seite rutschte Unity aufgeregt hin und her.
»Sie veranstalten großartige Feste, wie ich gehört habe«, warf das Mädchen ein und schenkte seiner Mutter einen leicht vorwurfsvollen Blick. »Aber meistens dürfen nur Offiziere daran teilnehmen.«
»Und das ist auch gut so«, entgegnete Augusta. »Jeder muss seinen angestammten Platz kennen. Wir dürfen uns nicht allzu unbekümmert untereinander bewegen.« Sie wandte sich wieder an Roxane. »Hier finden regelmäßig großartige Bälle und andere gesellschaftliche Ereignisse statt. Sie werden sich hier sicher nicht langweilen.«
»Vermutlich nicht, bei all dem, was Sie gerade aufgezählt haben«, stimmte Roxane ihr zu.
»Und es gibt noch andere Möglichkeiten«, meinte Augusta und bedeutete den Dienern, dass das Mittagessen beendet sei. Dann nahm sie ihr Glas in die Hand und stand auf. Ihre Tochter und Roxane folgten ihrem Beispiel.
»Die wären?«, erkundigte sich Roxane. Allmählich kehrte ihre übliche gute Laune zurück. Irgendetwas an den Ereignissen am Morgen hatte ihre Stimmung gedämpft und sie streitlustig gemacht. Zänkisches Verhalten hatte jedoch nichts mit Unabhängigkeit zu tun, das war ihr klar. Sie musste sich wieder unter Kontrolle bringen, den Vorfall mit dem Captain vergessen und sich auf die vor ihr liegenden Tage konzentrieren.
Sie stützte einen Ellbogen in die Hand des anderen Arms und drückte ihr Glas gegen das Kinn, um die Haut über dem beinahe kräftig anmutenden Knochen zu kühlen. Trotz des Punkah war es unangenehm stickig in dem Raum. Sie folgte Augusta zu dem Kanapee und setzte sich.
»Es herrscht kein Mangel an begehrenswerten Junggesellen in der Ostindien-Kompanie. Zweifellos ist der geeignete Ehemann für Sie dabei«, erklärte Augusta, so als wolle sie Roxane damit ein persönliches Geschenk machen.
»Ein Ehemann?«, wiederholte Roxane. Ein Lächeln umspielte immer noch ihre Lippen, aber sie hatte Mühe, den aufsteigenden Ärger zu unterdrücken. Hatte sie sich in diesem Punkt nicht klar ausgedrückt?
Anscheinend nicht. »Mrs Stanton«, sagte sie ruhig. »Ich habe nicht vor zu heiraten.«
»Ach was«, warf Unity geringschätzig ein. Als Augusta den Blick senkte, grinste das Mädchen.
»Vielleicht nicht sofort«, fuhr Mrs Stanton fort. »Ihnen steht schon bald eine Aussöhnung bevor. Aber schließlich sind wir doch alle für die Ehe bestimmt, nicht wahr?«, fügte sie fröhlich hinzu. »Ist es nicht das, worauf wir uns alle freuen, unser oberstes Ziel? Sie werden irgendwann zur Ruhe kommen wollen …«
»Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, aber ich bin bereits recht ausgeglichen«, erklärte Roxane.
Augusta lächelte wissend.
»Das mag Ihnen so erscheinen. Aber wie wollen Sie leben? Eine Erbschaft reicht nicht ewig.«
»Wenn man sie richtig anlegt, vielleicht doch«, entgegnete Roxane.
»Ja, vielleicht, aber Garantien gibt es dafür nicht.«
»Nein«, stimmt Roxane überzeugt zu. »Die gibt es wirklich nicht.«
Der Fächerventilator schwang vor und zurück und knarrte laut in dem folgenden Schweigen. Unity beugte sich in ihrem Stuhl vor. Obwohl sie ihr Haar mit einem Seidenband zusammengebunden hatte, standen ihr einige widerspenstige Strähnen wie Flammen vom Kopf ab oder fielen ihr in ihr schmales Gesicht. Sie schlug die Hände im Schoß zusammen.
»Sag ihr, was du getan hast, Mutter. Sag es Roxane.«
Augusta setzte sich noch gerader hin, falls das überhaupt möglich war, und stellte ihr Glas auf den Tisch. Dann huschte ein Ausdruck über ihr Gesicht, der sowohl entschuldigend als auch trotzig verteidigend wirkte. Der Kampf ihrer Gefühle war quälend deutlich zu sehen.
»Ich bin davon überzeugt, das Richtige getan zu haben«, begann sie.
»Sicher«, beruhigte Roxane sie. Sie runzelte leicht die Stirn und stellte ihr Glas ab. Dabei fiel ein Schweißtropfen auf ihr
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