Palast der Stürme
sie sich ineinander verliebt hatten.«
»Wie im Märchen«, bemerkte Roxane tonlos.
»Ja, genau«, stimmte Augusta ihr zu.
»Wie romantisch.« Unity stieß einen hörbaren und in Roxanes Ohren lächerlich theatralischen Seufzer aus. »Wie wunderbar, dass sie sich so schnell ineinander verliebt haben.«
Roxane packte ihre Serviette am Zipfel, schüttelte sie kurz und legte das Tuch aus Leinen ausgebreitet auf ihren Schoß. Als sie sah, wie sehr sie es verknittert hatte, verzog sie das Gesicht und versuchte rasch, die Falten mit der Handfläche zu glätten. »Das Problem dabei ist nur, dass es keine Garantie für eine so schnell entstandene Verliebtheit gibt.« Roxanes Stimme klang leise, war aber an jeder Stelle des kleinen, mit einem Tischtuch bedeckten Tisches gut verständlich. »Oft verschwindet eine solche Liebe rasch wieder, und genau das ist in diesem Fall offensichtlich geschehen. Wie ich bereits gesagt habe, hat uns mein Vater vor fünfzehn Jahren verlassen. Das geschah weder auf meinen Wunsch hin noch auf den meiner Mutter – es war seine eigene Entscheidung.«
Schweigen senkte sich über die Gruppe. Die Bediensteten verrichteten wie immer geräuschlos und zeitweilig völlig unbeachtet ihre Aufgaben, räumten das Geschirr ab und füllten Gläser mit Eistee. Irgendwo im Raum surrte ein Insekt. An der Decke bewegte sich der Punkah an der Seilrolle und quietschte dabei wie eine verängstigte Maus. Nach ein paar Minuten räusperte sich Augusta Stanton diskret, bevor sie zu sprechen begann.
»Ich hätte begreifen müssen, dass Sie das verletzt. Bitte verzeihen Sie mir meine Gedankenlosigkeit.«
Roxane bedankte sich bei dem Bediensteten an ihrer Seite für das frische Getränk, trank einen Schluck und bemühte sich, ihre Fassung wiederzuerlangen. Dann stellte sie das Glas auf dem Ring ab, den die Feuchtigkeit auf dem weißen Leinentuch hinterlassen hatte.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich bin einfach zu empfindlich, wenn es um dieses Thema geht«, erklärte sie. »Bitte lassen Sie uns einfach über etwas anderes sprechen und vergessen, was ich gesagt habe.«
»Einverstanden«, erwiderte Augusta liebenswürdig. »Worüber wollen wir uns unterhalten?«
Roxane betrachtete die fein geschnittenen Züge und den aufmerksamen Gesichtsausdruck der Frau. Sie war nicht wirklich hübsch zu nennen, ebenso wenig wie ihre Tochter, und Roxane fragte sich, ob das jemals der Fall gewesen war. Sie versuchte sich vorzustellen, wie diese Frau und ihre Mutter sich als Freundinnen bei verschiedenen gesellschaftlichen Ereignissen gemeinsam amüsiert hatten. Hatte Augusta sich jemals von der Schönheit ihrer Freundin erdrückt gefühlt? Von dieser strahlenden Schönheit, die später durch die Schmerzen der Reue verblasst war.
Roxane hatte oft das Porträt ihrer Mutter betrachtet, das gemalt worden war, als diese ein sechzehnjähriges Mädchen gewesen war. Sie hatte ihre Gesichtszüge und ihre Miene betrachtet, den Schwung ihrer Schultern, das glänzende dunkle Haar, das auf die elfenbeinfarbene Haut fiel. Ja, sie war wunderschön anzusehen gewesen, aber ihre wahre Schönheit hatte in ihrem Inneren gelegen, wie ein Dorn, der in ihrem Fleisch eingebettet war. Louisa Sheffield war zu lieben fähig gewesen, mehr als jeder andere Mensch, den Roxane jemals kennengelernt hatte. Aber als die arme Louisa verlassen worden war, war sie gezwungen worden, diese Liebe tief in sich zu vergraben und nie wieder das Risiko einzugehen, so sehr zu lieben. Roxane hatte ihre Mutter in den vergangenen Jahren verwelken sehen, in dem Bestreben, diese Liebe loszulassen.
Nun, sie selbst würde niemals so töricht sein, sich ihr ganzes Leben lang nur nach einem einzigen Mann zu verzehren. Sie hatte sich bemüht, Unabhängigkeit und Stärke zu erlangen, um sich auf ihre eigenen Fähigkeiten verlassen zu können. Es gab nur wenige Männer, wenn überhaupt einen, die eine solche Frau attraktiv fanden, und das kam ihr gerade recht. Selbst Captain Harrison konnte sicher mit einer Frau nichts anfangen, die ihn nicht anschwärmte und ihn verehrte. So waren Männer eben, und sie konnten nichts gegen diesen Charakterzug tun.
»Roxane?«
»Entschuldigung.« Sie schüttelte rasch ihre Gedanken ab und schob das Bild dieser blaugrauen Augen von sich, das sie unvermittelt vor sich gesehen hatte. Es war nichts Besonderes daran, gar nichts.
»Was möchten Sie über unseren Tagesablauf wissen?«, erkundigte sich Augusta freundlich. »Wie Sie sehen, nehmen
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