Palast der Stürme
tauschten neugierige Blicke.
Plötzlich legte der Colonel sein Besteck auf das Tischtuch und räusperte sich. »Im Augenblick sind Sie gar nicht so sehr daran interessiert, zu ihm zu fahren, nicht wahr, Roxane? Es geht nicht darum, dass Sie Ihren Vater nicht sehen wollen, aber es gibt einen Grund, warum Sie lieber in Kalkutta bleiben würden, oder?«
Roxane sah den Colonel an, der seiner Frau heftig zuzwinkerte. Sie wartete unangenehm berührt ab.
»Es ist der Spitzbube Harrison, nicht wahr?«, fügte er scherzhaft hinzu. Mrs Stanton klopfte ihm mit den Fingern auf den Arm, um ihn wegen seiner Taktlosigkeit zur Ordnung zu rufen.
»Er taucht hier recht oft auf und findet dafür die eine oder andere Entschuldigung, nicht wahr, Mrs Stanton?«, fuhr der Colonel unbeirrt fort und schenkte seiner Frau ein Lächeln.
»Er war schon seit einer Woche nicht mehr hier«, warf Unity ein.
»Die Pflicht«, erklärte der Colonel im Brustton der Überzeugung. »Die Pflicht hat den Captain gerufen. Machen Sie sich keine Sorgen, Roxane. Ich habe mich über den Burschen erkundigt. Er musste unverzüglich abreisen, aber er wird wohl heute im Laufe des Tages nach Kalkutta zurückkehren.« Er lachte wieder bellend. »Sicher im rechten Moment, um Sie um den ersten Tanz beim Ball im Regierungsgebäude zu bitten!«
»Um den ersten Tanz?«, wiederholte Augusta Stanton, nahm sich zerstreut eine Scheibe Melone und löste das Fruchtfleisch von der Schale. »Dieser Tanz ist üblicherweise für den Favoriten unter den Verehrern einer Dame vorgesehen, sonst lässt die Dame ihn aus. Wenn Roxane dem Captain den ersten Tanz schenkt, würde die Bedeutung dessen sicher zum Gesprächsthema unter den Gästen. Vielleicht sollten wir das nicht gestatten? Die Wünsche ihres Vaters sind möglicherweise …«
»Die Wünsche eines Vaters haben nicht über eine zwanzigjährige Frau zu bestimmen«, unterbrach der Colonel sie. Als er sah, dass Roxane noch blasser wurde, fügte er rasch hinzu: »Alles in Ordnung, Roxane?«
Roxane nickte. »Ja, ja, natürlich. Ich … Der Ball ist heute Abend?«
Augusta lächelte. »Roxane, wie konnten Sie das vergessen?«
Roxane hatte den Ball natürlich nicht vergessen. Das wäre auch schwierig gewesen, selbst wenn sie es versucht hätte, da Unity über nichts anderes sprach. Das war der erste richtige Ball für das Mädchen, ihre Einführung in die Gesellschaft, und sie benahm sich so überschwänglich wie bei allen anderen Situationen, die in ihren Augen romantisch waren. Roxane hatte sich mehrmals die Gästeliste, das zu erwartende Menü und die Musiktitel anhören dürfen. Sie wusste, wer von wem begleitet werden würde, wer voraussichtlich von Lord Canning und seiner Frau begrüßt werden würde, welche der ungebundenen jungen Damen ein Auge auf welchen geeigneten jungen Mann geworfen hatte, wer den ersten Tanz tanzen würde, wer darauf hoffte und wer nicht die leiseste Chance hatte, überhaupt auf den Tanzboden zu gelangen. Manchmal fragte sich Roxane, woher Unity diese Fülle von Informationen hatte. Einiges mochte zwar belanglos sein, aber nichtsdestotrotz war alles unterhaltsam.
»Roxane«, begann Unity. Sie standen mit ausgestreckten Armen nebeneinander, während zwei Näherinnen fieberhaft mit den letzten Änderungen ihrer Ballkleider beschäftigt waren. »Sie wirkten nicht sehr begeistert bei der Aussicht auf den Ball.«
»Habe ich das etwa gesagt?«, entgegnete Roxane, machte eine Vierteldrehung nach links und atmete tief ein, damit sie nicht von einer Stecknadel gestochen wurde. Die Einheimische, die vor ihr kniete, sah zu Roxane auf.
»Die Memsahib hat …« Sie deutete auf ihre eigene Taille.
»Hat was?«, fragte Roxane verblüfft.
»Eine schmale Taille«, warf Augusta von ihrem Beobachtungsposten auf dem Chintzsessel in der Ecke ein. »Sie sollten stolz darauf sein.«
»Das ist die Hitze«, meinte Roxane. »Ich habe seit meiner Ankunft sicher abgenommen.«
»Unsinn«, widersprach Augusta. »Sie haben die Figur Ihrer Mutter – wie ein Stundenglas. Ein Korsett haben Sie nicht nötig.« Im Ton der Frau schwang leise Eifersucht mit.
»Das ist sicher auch Captain Harrison aufgefallen.« Unity grinste, während sie sich ebenfalls langsam auf dem Hocker drehte, auf dem sie stand.
»Unity! Wie um alles in der Welt konnte mein Kind so frech werden? Wenn das dein Vater wüsste …«
Unity kicherte und warf Roxane einen bedeutsamen Blick zu, bevor sie ihren Kopf schüttelte. Ihr Haar fiel ihr wie rote
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