Palast der Stürme
Flammen über ihr herzförmiges Gesicht und ihre zarten Züge. Wie Roxane feststellte, schwitzte sie nicht einmal. Rasch hob sie ihre Hand und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Bitte still stehen«, mahnte die Näherin, den Mund voller Stecknadeln. Roxane unterdrückte ihre wachsende Ungeduld und gehorchte.
»Roxane und der Captain werden das schönste Paar auf dem Ball sein«, fuhr Unity fort. »Sie passen in der Größe sehr gut zusammen, hast du das bemerkt, Mutter? Captain Harrison ist wundervoll groß, aber Roxane reicht ihm bis zum Kinn …«
Offensichtlich dachte Augusta über die Bedeutung dieser Beobachtung nach. Sie runzelte die Stirn und betrachtete erst nachdenklich ihre Tochter und dann Roxane.
»Beide haben dunkles Haar, obwohl das des Captains tiefschwarz ist, nicht wahr?«, plapperte Unity weiter, ohne sich darum zu kümmern, dass ihre Zuhörer ihr nicht antworteten. »Kinder gleichen meist zumindest einem Elternteil. Roxanes und Captain Harrisons Kinder werden wunderschön sein.«
»Unity!«, riefen Roxane und Augusta wie aus einem Mund. Augusta sprang bebend von ihrem Stuhl auf.
»Das reicht, Unity. Wenn du deine Zunge nicht im Zaum halten kannst, werde ich dir verbieten, heute Abend zum Ball zu gehen. Hast du mich verstanden?«
»Würdest du das wirklich tun, Mutter?« Unity drehte sich gehorsam, während die Näherin ihre Arbeit überprüfte.
»Du weißt, dass ich das tun würde«, erwiderte Augusta streng.
»Also gut.« Unity lächelte engelsgleich. »Dann werde ich eben nichts mehr sagen.«
Aber die Saat war bereits aufgegangen, und in den folgenden Minuten sah man jeder der Frauen an, dass sie mit ihren Gedanken beschäftigt war. Augusta war offenkundig beunruhigt. Unity war begeistert, und Roxane kämpfte mit widerstreitenden Gefühlen.
Kinder?, dachte sie. Kinder? Sie hatte sich noch nie ernsthaft damit beschäftigt, einmal Mutter zu sein, wahrscheinlich weil sie niemals ernsthaft in Betracht gezogen hatte zu heiraten. Und das tat sie immer noch nicht. Sie und Captain Harrison ein hübsches Paar mit schönen Kindern? Das ging über Unitys Vorliebe für Romantik hinaus; das Kind war verrückt geworden.
Roxane stieg von dem Schemel, ließ sich das Kleid über die Schultern ziehen und schlüpfte vorsichtig heraus. Einen Augenblick stand sie nur in ihrem Unterkleid und Strümpfen da.
Collier. Sie hatte natürlich gewusst, dass er abgereist war, und sie hätte Colonel Stantons Erklärung nicht gebraucht. Er war vorher zu ihr gekommen und hatte ihr gesagt, dass er fortmüsse. Allerdings hatte er ihr nicht sagen wollen, wohin. Sie hatten sich im Garten gestritten, sehr leise und sehr heftig. Roxane erinnerte sich daran, dass er außer sich gewesen war, aufgeregt und besorgt um sie, ihr aber nicht erklären wollte, warum. Sie hatte Kopfschmerzen gehabt, was normalerweise nichts an ihrer Stimmung änderte. An diesem Tag hatten sie die Schmerzen jedoch beeinträchtigt. Die Worte, die sie gewechselt hatten, waren nicht wirklich unhöflich oder verletzend gewesen und hätten sich in Nichts aufgelöst, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten, sie zurückzunehmen oder sich dafür zu entschuldigen. Aber als er versucht hatte, sie zu umarmen, war sie ihm ausgewichen. Sie hatten noch zu Mittag gegessen, und dann war er gegangen. Als er sich umgedreht hatte, war der Ausdruck in seinen Augen nicht zu deuten gewesen. Sie hatte ihn nicht zurückgerufen.
Roxane schlüpfte in den Morgenmantel, den eine Dienerin für sie bereithielt. Augusta war vielleicht etwas an Roxanes Miene aufgefallen. Sie ging auf sie zu und tätschelte ihr den Arm.
»Jetzt ruht euch aus, Mädchen. Wir wollen vor dem heutigen Fest noch ein Nickerchen halten, damit wir so gut wie möglich aussehen.«
Und das taten sie wirklich, obwohl Roxane sich nur zögernd zurechtgemacht hatte.
Mit zwanzig war sie jedoch noch nicht so weit von ihrer Kindheit entfernt, dass sie von der Ausgelassenheit nicht angesteckt wurde. Die Atmosphäre glich der eines Ferientages, und Roxane war nicht gesetzt oder bescheiden genug, um nicht von der magischen Wandlung ihres Erscheinungsbildes hingerissen zu sein, die mithilfe zweier geschickter Dienerinnen gelungen war.
Trotz Unitys Bemerkungen hatte Roxane sich selbst nie für eine schöne Frau gehalten. Sie wusste natürlich, dass sie ihrer Mutter glich, die ungewöhnlich gut aussehend gewesen war, und dass ihr diese Ähnlichkeit zum Vorteil gereichte. Sie hatte jedoch beschlossen, dass ihr
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