Palast der Stürme
gemeinter und zärtlicher Zuneigung. Während er sie ansah, wurde ihm klar, dass er nie das Zentrum in seinem eigenen Universum gewesen war. Das Firmament war unveränderbar festgesetzt, und ihr Stern war schon immer da gewesen.
7
Roxane schob ihr Essen lustlos auf dem Teller hin und her. Ihr dichtes schwarzes Haar war locker im Nacken zusammengebunden; ihr Kleid aus frisch gestärktem blassgrünem Baumwollstoff schien ihr wie ein feuchter Lumpen am Körper zu kleben. Sie spürte, wie Colonel Stanton sie über den Tisch hinweg aus seinen sanften braunen Augen bestürzt musterte.
»Sie sehen heute Morgen ein wenig unwohl aus, Roxane«, meinte er mit vollem Mund. Offensichtlich schmeckte ihm sein Essen hervorragend.
»Es ist sehr warm«, erwiderte Roxane.
»Und es wird noch viel wärmer werden«, erklärte der Colonel.
Roxane nickte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen; alles, was man durch die halb geöffneten Jalousien vom indischen Himmel sehen konnte, war ein blasser Schimmer. Die leichte Brise, die so oft zu dieser Tageszeit Abkühlung brachte, schien heute auszubleiben. Über ihren Köpfen quietschten unaufhörlich die Punkahs, die von dunkelhäutigen Dienern bewegt wurden.
»So blass sieht Roxane gar nicht aus«, warf Mrs Stanton neben ihrem Mann ein. »Außerdem sind blasse Wangen hochmodern.«
»Miss Sheffields Wangen sahen aus wie die blühenden Rosen im Garten meiner Mutter, als sie hier ankam, und ich habe mich mächtig darüber gefreut«, entgegnete der Colonel und ging abrupt wieder zu der formellen Anrede über. »Ich bin noch nicht so lange in diesem Land, dass ich bereits vergessen habe, wie eine gesunde Frau aussieht. Viele angenehme Erinnerungen tauchen wieder auf. Aber jetzt …« Wieder sah er zu Roxane hinüber. Seine Frau folgte beunruhigt seinem Blick.
»Sie sind doch nicht krank, meine Liebe?«
Roxane brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Nein, natürlich nicht«, versicherte sie den beiden. Neben ihrem Ellbogen tauchte einer der allgegenwärtigen Diener auf und füllte ihr leeres Glas auf. Unity schaute besorgt zu. »Ich nehme an, dass die Blässe auf die Hitze zurückzuführen ist. Aber daran werde ich mich sicher noch gewöhnen. Außerdem war ich immer sehr lange auf. Zu Hause war ich nicht so oft in Gesellschaft und bin meist zu einer Zeit zu Bett gegangen, zu der hier in Kalkutta die gesellschaftlichen Ereignisse erst beginnen.«
Der Colonel warf seinen Kopf zurück und lachte schallend. »Daran werden Sie sich wohl auch noch gewöhnen müssen, nicht wahr?«, kicherte er. Seine Frau unterdrückte ein amüsiertes Lächeln.
»Für eine junge Frau haben Sie anscheinend ein sehr behütetes Leben geführt«, meinte Mrs Stanton.
»Aber ich nehme an, unter Berücksichtigung Ihrer Jugend kann man …«
Unbewusst warf Roxane der Frau einen scharfen Blick zu. Mrs Stanton suchte nervös nach einer Entschuldigung, errötete und wedelte mit ihrer Serviette durch die Luft. Ihr Haar, das ihr peinlich berührtes Gesicht umrahmte, saß perfekt – ganz anders als bei den meisten Frauen, die Roxane in der Privatsphäre ihres Heims getroffen hatte. Stillschweigend gelobte sie, sofort nach dem Frühstück ihre zerzausten Locken ordentlich zu frisieren. Das führte sie in Gedanken zu einem anderen Thema.
»Ich habe einen Brief von meinem Vater erhalten«, erzählte sie.
Unity beugte sich vor. »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte sie lächelnd.
»Unity!«, rief ihre Mutter. »Hast du etwa in Roxanes Post herumgeschnüffelt?«
»Du weißt doch, dass ich mir immer die Post ansehe, wenn sie gebracht wird. Was macht es schon, wenn ich gesehen habe, dass ein Brief für Roxane dabei ist? Ich habe ihn schließlich nicht über Dampf geöffnet und gelesen.«
Roxane grinste.
»Was schreibt Ihr Vater?«, fuhr Unity fort, unbeirrt von den Bemerkungen ihrer Mutter. »Freut er sich auf Ihre Ankunft? Wie geht es ihm? Delhi wird Ihnen gefallen. Das weiß ich genau.«
»Ja«, erwiderte Roxane langsam. »Ja, er freut sich auf meine Ankunft.«
Sie selbst bemerkte die Verwunderung in ihrer Stimme, und sie wusste auch, woher sie stammte. In diesem Brief hatte ihr Vater einen Ton angeschlagen, der eine gewisse Vorfreude auf ihre Ankunft und Zuneigung für seine Tochter ausdrückte. Das war vorher noch nie der Fall gewesen. »Er scheint schon ungeduldig auf meine Ankunft zu warten«, erklärte sie, und dieses Mal fiel allen die Ungläubigkeit auf, mit der sie das sagte. Der Colonel und Mrs Stanton
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