Palast der Stürme
eine Nachricht zu überbringen.
»Ich freue mich sehr, dass wir noch die Gelegenheit hatten, uns kennenzulernen und ein wenig Zeit miteinander zu verbringen, bevor Sie nach Delhi abreisen. Vater hat mir von Colonel Stanton erzählt. Er hat ihn wohl kennengelernt, als wir vor drei Jahren in Indien waren, aber Vater wurde dann versetzt. Wir verließen Kalkutta schon nach kurzer Zeit und waren dann in Lahore.«
Roxane berichtete von ihren Erlebnissen am Tag ihrer Ankunft, wobei sie jedoch bewusst den Namen ihres Retters nicht erwähnte – das war ihre Privatsache. Alle anderen Details schmückte sie so gekonnt aus, dass Olivia vor Lachen die Tränen über die Wangen liefen.
»Oh Miss Sheffield!«, rief sie aus und wischte sich mit ihrer Serviette die Augenwinkel. »Wie schade, dass Sie bald abreisen. Ich würde sehr gern mehr solcher Geschichten hören. Haben Sie noch welche auf Lager?«
»Ein paar«, antwortete Roxane mit einem Grinsen.
Olivia begann vorsichtig Geschirr auszupacken. Sägespäne flogen in die Luft, und sie fächelte sie niesend beiseite.
»Darf ich Sie fragen, warum Sie nach Delhi fahren anstatt in die Berge, oder bin ich zu neugierig?«
»Nein, ich sage es Ihnen gern.« Roxane fegte die Späne von ihrem Rock. »Ich treffe mich dort nach langer Zeit wieder mit meinem Vater.«
»Wie lange haben Sie ihn nicht gesehen?«
Roxane hob eine besonders lange Spirale aus Zedernholz hoch, drückte sie gegen ihren Handballen und zerteilte sie mit dem Fingernagel. »Fünfzehn Jahre«, antwortete sie, stand auf und trug einen Stapel Teller zu einer Anrichte.
Olivia folgte ihr und stellte ein silbernes Serviertablett neben das Geschirr.
»Das ist eine schrecklich lange Zeit.«
»Ich weiß.«
»Er muss Ihnen vorkommen wie ein Fremder.«
»Er ist ein Fremder für mich.« Roxane war dankbar dafür, dass die junge Frau nicht weiter in sie drang, sondern ihre Bemerkung ohne weitere Fragen akzeptierte.
»Dann werden wir uns eben schreiben«, erklärte Olivia nach einer Pause.
Roxane zögerte einen Augenblick. »Natürlich«, stimmte sie dann zu und holte den nächsten Stapel Geschirr.
Eine Weile arbeiteten sie schweigend weiter, bis Olivia anscheinend zu einem Entschluss gekommen war, was sie fragen wollte. Sie atmete kurz durch die Nase aus und sah Roxane dann direkt in die Augen.
»Sie sind also nicht verheiratet?«
Roxane hatte Gläser mit einem Tuch abgewischt und sie dann einem Diener gereicht, damit dieser sie auf den Tisch stellen konnte. Nun hielt sie inne.
»Nein, bin ich nicht«, erwiderte sie.
»Sie sind zu jung für eine Witwe …«
»Ich war nie verheiratet, Miss Waverly.«
»Olivia, bitte.«
»Olivia«, wiederholte Roxane. Ärgerlich stellte sie fest, dass einige Schweißtropfen langsam zwischen ihren Schulterblättern nach unten rannen. Der Gedanke an ein angenehmes Bad fuhr ihr kurz durch den Kopf.
»Und es gibt niemanden in Ihrem Leben? Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich zu persönlich werde. Ich … ich habe nur einfach das Gefühl, dass zwischen uns eine gewisse … Seelenverwandtschaft besteht, auch wenn wir uns erst seit Kurzem kennen. Außerdem haben Sie eine gewisse Ausstrahlung.«
»Ausstrahlung?«, wiederholte Roxane misstrauisch.
»Ja. Es gibt Frauen, die eine bestimmte Anziehungskraft auf Männer ausüben, ob sie das wollen oder nicht. Und dann gibt es diejenigen, die durch ihr Aussehen und die Art, wie sie sich zurechtmachen, attraktiv wirken. Sie gehören zur ersten Gruppe.«
Roxane runzelte die Stirn. »Das ist doch Unsinn«, protestierte sie.
»Nein!«, widersprach Olivia überzeugt. »Das ist wirklich so. Obwohl die Frauen aus der ersten Gruppe nicht notwendigerweise schön sind, haben Sie etwas an sich, dem Männer nicht widerstehen können. Und Sie besitzen dieses Etwas.«
»Obwohl ich nicht schön bin«, fügte Roxane hinzu und lachte leise.
Olivia errötete. »Verzeihen Sie mir. Ich wollte damit nicht sagen, dass … Sie sind auf jeden Fall …«
Roxane lachte lauter. »Schon gut«, sagte sie. »Das macht nichts. Es ist mir nicht wichtig, ob ich schön bin oder nicht, oder ob ich begehrenswert bin oder nicht …«
»Das liegt nur daran, weil Sie es sind«, unterbrach Olivia sie. »Wenn Sie es nicht wären, würde es Ihnen sicher etwas ausmachen.«
Roxane dachte kurz darüber nach. »Nun ja, bisher haben sich die Männer noch nicht scharenweise vor meinem Haus versammelt, also sind Ihre Theorie bzw. Ihre Wahrnehmung von mir möglicherweise nicht
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