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Palast der Stürme

Palast der Stürme

Titel: Palast der Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alyssa Deane
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wider jede Vernunft zu rasen. Als sie die Stufen zu ihm hinaufsteigen wollte, schüttelte er heftig den Kopf. Genauso gut hätte er ihr eine Ohrfeige verpassen können. Sie blieb stehen und atmete schmerzhaft tief ein. Vor Furcht wurde ihr eiskalt, obwohl sie die Schweißperlen unter ihrem Kleid spüren konnte.
    »Collier?«
    Aus den Augenwinkeln sah Roxane weiße und pinkfarbene Farbkleckse und war sich bewusst, dass Olivia an ihr vorbeigelaufen war. Die junge Frau blieb am Treppenabsatz zum Büro ihres Vaters stehen. Collier wandte seinen Kopf so steif wie eine Marionette aus Holz und Fäden und starrte sie an.
    »Miss Sheffield, ist Ihre Freundin verletzt?«, fragte Olivia. »Ist etwas passiert? Vielleicht können wir helfen«, bot sie besorgt an und stieg die Stufen hinauf. Dann legte sie ihre feingliedrige Hand auf Colliers Arm.
    »Miss Sheffield, das ist mein Verlobter Captain Harrison.«

9
    Delhi
Juni 1856
    Max Sheffield spazierte zwei Meilen außerhalb der alten Stadt Delhi am Festungsgraben entlang und wischte sich mit einem Taschentuch über den Nacken. Neben dem Fluss erhob sich hinter den Stadtmauern das Rote Fort, blutrot im Licht der erbarmungslosen Sonne. Sheffield sah zum Horizont, wo eine einzelne Wolke aufgetaucht war, die am milchig weißen Himmel grau wirkte. Schon bald – vielleicht sogar noch heute – würde es zu regnen beginnen. Die ersten großen Tropfen würden den unbarmherzigen Staub ertränken. Dann würde Dampf von der Erde, von den Steinen der Moschee und dem Fort sowie den unzähligen Gebäuden innerhalb und außerhalb der Stadt aufsteigen wie aus einem großen Kessel. Doch danach würde es keine Erleichterung geben. Der Monsunregen war ebenso gnadenlos wie die Hitze in Indiens Zyklus der Extreme.
    Gestern war Roxane angekommen. Er hatte sich jahrelang im Stillen auf die Dinge vorbereitet, die er ihr bei ihrem Wiedersehen hatte sagen wollen, aber er war nicht auf ihren Anblick vorbereitet gewesen. Alle Formulierungen, mit denen er diesen Moment hatte auflockern wollen, waren ihm entfallen. Obwohl er sich des Zeitraums bewusst gewesen war und er auf den Tag genau ihr Alter wusste, hatte er nicht damit gerechnet, eine erwachsenen Frau vor sich zu sehen. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass sie sich so sehr verändert hatte, dass sie so groß und hübsch war und ihrer Mutter so sehr ähnelte. Außer ihrer Größe und den grünen Augen der Sheffields glich sie ihr wie ein Ei dem anderen. Das allein verschlug ihm die Sprache, und so hatte er sie lediglich angestarrt, gepeinigt von Schuld und einem Gefühl des Verlusts.
    Schließlich hatte Roxane den ersten Schritt gemacht und ihm die Hand in einer Geste entgegengestreckt, die zwar nicht freundlich, aber auch nicht vorwurfsvoll gewesen war.
    Wir werden alles nachholen, gelobte er lautlos. Das schwöre ich.
    Roxane stand mit Unity neben der Kutsche der Stantons im Schatten und suchte nach den richtigen Abschiedsworten. Sie hatten sich bereits versprochen, sich zu schreiben und sich wiederzusehen, wahrscheinlich wenn die Stantons bei ihrer Rückfahrt von Simla auf der Durchreise waren. Unity war verstummt und starrte auf die Reihe der fedrigen grünen Tamarisken. Ihr junges Gesicht wirkte trauriger, als es sollte, und Roxane fragte sich, woran sie gerade dachte.
    Während sie Unity musterte, dachte sie daran, wie bekümmert und verwirrt das Mädchen gewesen war, als es von Colliers doppeltem Spiel erfahren und dann Roxane in Olivia Waverlys Gesellschaft angetroffen hatte. Das war in der Tat ein merkwürdiger Zufall gewesen, eine grausame Laune des Schicksals, für die Roxane im Nachhinein jedoch dankbar war. Olivia war ihr sympathisch gewesen. In lichten Momenten war ihr klar, dass die junge Frau keine Schuld an den Geschehnissen trug.
    Irgendwo in ihrem Inneren, vermutlich in der Mitte ihrer Brust, spürte Roxane immer noch den kalten, brennenden Schmerz, der sie daran erinnerte, wie sich ihre Haut angefühlt hatte, als ihr rechter Unterarm einmal im Winter an einem gefrorenen Rohr festgeklebt war. An der Stelle hatte sie immer noch eine zarte Narbe. Aber sonst fühlte sie nichts. Sie verspürte kein Bedürfnis zu weinen, zu schreien, zu hassen oder zu trauern. In ihr war alles relativ taub, und mit einem Teil ihres Verstands begriff sie, dass sie dafür sehr dankbar sein musste.
    »Er … er war … war die ganze Zeit bereits anderweitig gebunden«, hatte Unity geschluchzt.
    »Hör auf, darüber zu reden«, hatte Roxane ihr tonlos

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