Palast der Stürme
ganz korrekt.«
»Sind Sie da sicher?« Olivia hob das Tuch auf, das Roxane beiseitegelegt hatte. »Oder haben Sie Ihre Verehrer nicht gewohnheitsmäßig abgewiesen? Denn das spürt man bei Ihnen auch.«
»Wie bitte?« Roxane sah die jüngere Frau verblüfft und ein wenig argwöhnisch an. Sie wunderte sich über Olivias unheimlichen Scharfblick. Und die junge Frau hatte recht. Es hatte viele junge Männer gegeben, die versucht hatten, ihr den Hof zu machen, aber Roxane hatte sie alle routinemäßig abgewiesen. Sie hatte sich selbst immer vorgesagt, dass es diesen Männern an wirklichem Interesse fehlte, denn wie konnte jemand einer Frau den Hof machen wollen, die nicht fähig war, sie so anzuhimmeln, wie sie sich das wünschten? Im Grunde genommen war es jedoch ihre eigene Unfähigkeit gewesen, Vertrauen zu schenken, die ihr Verhalten bestimmt hatte.
Vertrau mir, hatte Collier gesagt. Vertrau mir.
Roxane schloss die Augen, hob leicht das Kinn und atmete den Duft eines Parfums ein, der unerwartet durch die warme Luft strömte.
»Es gibt da einen Mann«, erklärte sie leise.
»Auch das sieht man an Ihren Augen.« Olivia lächelte.
Mit einer ungeduldigen Geste nahm Roxane Olivia das Tuch aus der Hand und begann wieder, Gläser zu polieren.
»Sie sind sehr scharfsinnig«, meinte sie. Olivia drehte sich um, um die Frage eines Dieners zu beantworten, wie die Netze über den Betten in den Schlafzimmern angebracht werden sollten.
»Sieht er gut aus?«, erkundigte sie sich dann.
»Ja. Allerdings würde es nichts an meinen Gefühlen ändern, wenn er es nicht täte. Oder sage ich das nur, weil er so attraktiv ist, Miss Waverly?«
Olivia lachte. »Wenn eine Frau einen Mann verliebt anschaut, tut sie das mit ihrem Herzen, nicht mit ihren Augen, daher macht es wirklich keinen Unterschied.«
»Sie hören sich an wie Unity«, spottete Roxane. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und hinterließ eine Staubspur.
»Unity?«
»Unity Stanton, die ständig die Tugenden der Liebe preist.«
»Und Sie glauben nicht an diese Tugenden?«
»Ich habe keinen Beweis für ihre Existenz.«
»Dieser Beweis wird sich im Lauf der Zeit von selbst offenbaren.«
»Sie sind noch sehr jung, um vom Lauf der Zeit zu sprechen«, wandte Roxane ein.
»Ich habe meine Eltern beobachtet, als ich aufwuchs.«
»Das ist der springende Punkt«, murmelte Roxane betrübt, als sie an ihre eigene Kindheit dachte.
Es entstand ein peinliches Schweigen, bis Olivia es schließlich brach.
»Lieben Sie diesen Mann, Roxane?«
Roxane trat einen Schritt von dem nun leeren Tisch zurück und umklammerte das schmutzige Tuch in ihrer Hand.
»Ja«, flüsterte sie.
»Und er? Liebt er sie auch?«
Roxane ließ einen Augenblick verstreichen, bevor sie antwortete.
»Ja.«
»Dann wäre es keine Vernunftehe, keine arrangierte Verbindung oder eine Ehe aus finanziellen Gründen.«
Roxane verzog den Mund bei der unverblümten Ausdrucksweise der jungen Frau. »Wir sind nicht verlobt. Wir haben zwar über eine Vermählung gesprochen, aber ich habe noch nicht zugestimmt.«
»Warum nicht?«
»Ich …« Roxane zögerte, bevor sie in die tiefblauen Augen der anderen Frau sah. Olivia zog ihre Schürze aus. Irgendwo in einem anderen Teil des Hauses schlug eine Messinguhr die Stunde.
»Weil ich Angst habe«, gab Roxane zu.
Olivia nickte und faltete ihre karierte Schürze zu einem kleinen Viereck zusammen. »Vielleicht müssen Sie genau prüfen, ob die Liebe, die Sie miteinander verbindet, groß genug ist.«
Roxane fühlte sich bei diesen Worten plötzlich sehr jung und unerfahren. Und dumm, weil sie an viel zu hoch gesteckten Idealen festhielt. Sie klopfte sich den Staub von den Händen. Olivia schlug ebenfalls mit plötzlicher Energie ihre Hände zusammen.
»Bleiben Sie zum Abendessen«, bat sie. »Außer mir wird nur Vater hier sein, und ich würde mich sehr über Ihre Gesellschaft freuen.« Sie lachte hell. »Es ist beinahe so, als wären wir bereits gute Freundinnen.«
Roxane zögerte. Mit einem Mal schien die Zeit viel zu schnell zu verrinnen. Sie wollte Collier sehen und mit ihm darüber sprechen, was ihr Herz und ihre Gedanken beschäftigte. Da sie bereits in zwei Tagen abreiste, hatte sie gehofft, ihn im Lauf des Abends zu sehen. Allerdings hatte sie noch keine Nachricht von ihm erhalten, und nach dem Abendessen würden noch etliche Stunden folgen, in denen sie ihn oder er sie aufsuchen konnte.
»Ich bleibe sehr gern«, erwiderte sie.
»Gut.«
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