Palast der Stürme
Kummer bereitete? Und was war mit Olivia Waverly? Was würde sie geben und im Gegenzug bekommen, wenn es sich nicht um Liebe handelte?
Aber damit würde sie sich nicht mehr beschäftigen. Sie würde nicht an Collier denken, nicht an seinen Schmerz, sein Schuldgefühl oder seine Bestürzung. Sie würde auch nicht an ihren eigenen Kummer denken. Es gab noch viel zu tun und zu lernen, denn hier war alles neu für sie; sie war weit weg von Kalkutta und noch viel weiter entfernt von London. Ja, Unity verließ sie jetzt, aber sie würden sich wiedersehen. Roxane hatte auf ihrer Reise nach Delhi einen weiteren Freund gewonnen – Ahmed Ali, ein Großneffe des Königs von Delhi, der gerade von seinem Studium in Europa zurückgekehrt war. Er hatte ihr versprochen, etwas zu arrangieren, damit Roxane Farsi lernen konnte. Obwohl Augusta Stanton ein wenig empört über Roxanes Freundschaft mit einem einheimischen Prinzen war, war sie im Stillen auch beeindruckt. Schließlich war es keine Schande. Unity war, wie es ihrer Art entsprach, hellauf begeistert und hatte damit wieder eine Quelle für ihre überaktive Fantasie gefunden. Das Leben würde weitergehen und nicht nur aus dem bloßen Fristen des Daseins bestehen. Roxane würde nicht den Fehler begehen, ihre Lebenserfahrungen auf nüchterne Notwendigkeiten des Überlebens zu beschränken.
Nachdem sie zugesehen hatte, wie die Kutsche der Stantons in einer Staubwolke verschwand, war Roxane zum Haus ihres Vaters zurückgegangen. Es war jetzt auch ihr Heim. Sie hatte zwar das Haus in London behalten, aber es war leer und abgeschlossen, und sie wusste noch nicht, wann sie wieder dorthin zurückkehren würde. Sie ging durch die Räume mit den hohen Decken und stellte fest, dass nichts auf die Anwesenheit einer Frau hindeutete; es gab keinen Hinweis darauf, dass ihre Mutter jemals hier mit ihrem Vater gelebt hatte. Doch dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass die beiden ja tatsächlich nie gemeinsam unter diesem Dach gelebt hatten. Vor ihrer Rückkehr nach England – und vor Roxanes Geburt – war ihr Vater an einem anderen Ort stationiert gewesen.
Überall im Haus gab es Bücher und etliche Pfeifen. Zwei davon befanden sich in einem Pfeifenständer, eine weitere lag am Rand eines Tabletts, das offensichtlich als Aschenbecher diente. Auf einem wackligen Tisch im Wohnzimmer standen zwei leere Mineralwasserflaschen neben einer verkorkten Karaffe mit Brandy, und daneben ausgebreitet lagen Spielkarten mit dem Rücken nach oben. An den Wänden hingen keine Bilder mit Landschaftsmotiven oder Stillleben, sondern nur einige Jagdszenen. Das Porzellan war einfarbig, die Chintzbezüge kariert oder gestreift – Blumenmuster tauchte natürlich nicht auf. Auf einem Korbstuhl lag ein schäbiger Schal, als wäre er vor langer Zeit dort abgelegt worden. In einer Ecke ragten ein Jagdmesser, eine Kutscherpeitsche und eine Reitgerte aus einem Kupferständer. Früh am Morgen hatte sich dort auch noch das Regimentsschwert ihres Vaters befunden, aber er hatte es am Koppel seiner Uniform mitgenommen. Alles in allem wirkte das Haus sehr nüchtern, wahrscheinlich typisch für einen Offizier ohne Familie.
Über dem Kaminsims hing ein Porträt von einem Mann in einer rostbraunen Uniform, verziert mit weißem Besatz und schwarzem Beiwerk. Der Mann trug seinen Helm unter dem Arm. Sein Lächeln wirkte verschlossen, die Augen über seiner langen, gebogenen Nase waren grün und das Haar rotbraun.
So war ihr ihr Vater im Gedächtnis geblieben – als junger Mann im besten Alter. Fünfzehn Jahre in Indien hatten ihn beträchtlich altern lassen. Wären seine Augen nicht gewesen, hätte sie ihn bei ihrem ersten Treffen am Tag zuvor nicht erkannt. Es waren die gleichen Augen, die sie jeden Tag aus dem Spiegel anschauten. Die gleichen Augen, die jeden Tag ihre Mutter angesehen hatten. Roxane fragte sich, wie sich ihre Mutter wohl gefühlt hatte, als sie beim Blick in das Gesicht ihres geliebten Kinds ständig an ihren untreuen Mann erinnert wurde.
Im Gegensatz zu der Darstellung auf dem Porträt war Maxwell Sheffields Gesicht jetzt so braun und verschrumpelt wie eine Nussschale, und sein Haar, früher kastanienbraun und glänzend, war vollständig ergraut und am Oberkopf dünn geworden. Er kam ihr auch kleiner vor, obwohl das daran liegen konnte, dass sie nicht mehr das Kind war, das auf seinen Knien geschaukelt hatte. Sein Lächeln wirkte nicht mehr einstudiert und eingebildet, sondern eher ungezwungen und direkt.
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