Palast der Stürme
Seine Schultern unter der Uniformjacke waren leicht gebeugt. Er ging langsam und setzte bewusst einen Fuß vor den anderen, womit er wohl seine Erschöpfung verbergen wollte.
In den fünfzehn Jahren ihrer Trennung war er alt geworden. Und damit war das Bild des Mannes, gegen den sie Zorn und Feindseligkeit empfunden hatte, verschwunden. Stattdessen sah sie sich einem Fremden gegenüber, und es war sehr schwer, Groll gegen einen Mann zu hegen, an den sie sich nicht erinnerte und den sie nicht kannte.
Sie schob das türkischrote Tuch vor der Bürotür ihres Vaters beiseite und blieb abrupt stehen. Ein kleines Kind mit pechschwarzem Haar, das ihm über eine Schulter fiel, saß am Schreibtisch und kritzelte etwas auf einen cremefarbenen Briefbogen. Vor dem Haus exerzierten Soldaten eine kurze Parade in der relativ kühlen Abendluft. Im Büro war es jedoch so still, dass Roxane das Kratzen der Feder über das Papier und das angestrengte Atmen des Mädchens hören konnte. Seine Zunge fuhr immer wieder über seine Mundwinkel, während es lautlos die Lippen bewegte und mit dem Blick den Bewegungen seiner linken Hand folgte. In dem schwachen Licht, das durch die Schlitze der Jalousien hereindrang, wirkte der Teint des Mädchens so blass und zart wie gebleichte Mandeln. Anscheinend war es ein eurasisches Kind – eines der unglücklichen, die keiner Gesellschaft wirklich angehörten und von der europäischen Welt des Vaters ebenso wie von der einheimischen Kultur der Mutter wegen ihres Mischerbes verachtet wurden. Roxane bemerkte das kleine goldene Kreuz am Hals des Mädchens und erinnerte sich daran, dass in den Religionen Indiens keine Unreinheit des Blutes akzeptiert wurde.
Anscheinend hatte Roxane an der Tür irgendein Geräusch gemacht, denn das Kind sah erschrocken auf. Das Mädchen presste den Briefbogen an seine Brust und schmierte dabei ein wenig Tinte auf seine Bluse.
Roxanne betrat den Raum.
»Ich bin Roxane Sheffield«, erklärte sie. »Und wer bist du?«
Das Mädchen kletterte von dem Stuhl, auf dem es gekniet hatte, und kam in seinen winzigen Stiefelchen quer durch das Zimmer auf Roxane zugestapft. Dann hielt es Roxane das Papier wie ein Geschenk entgegen.
»Das ist für dich«, sagte das Mädchen freundlich.
»Für mich?« Roxane spielte das Spiel mit. »Was ist das?«
»Lies es.«
Roxane folgte gehorsam und ging näher ans Fenster, um besser sehen zu können. Es war ein kurzer Brief in kindlicher Schrift, in dem die Kleine Roxane im Haus ihres Vaters willkommen hieß und ihrer Hoffnung Ausdruck gab, dass sie Freunde werden würden.
»Natürlich können wir Freunde werden«, erklärte Roxane und ging in die Hocke, als das Kind auf sie zukam. »Und vielen Dank für deinen Willkommensgruß. Aber wenn du es richtig machen willst, dann musst du auf deine Wortwahl achten. Siehst du das hier? ›Ich freue mich, dich im Haus meines Vaters willkommen zu heißen‹. Das muss heißen: ›Ich freue mich, dich im Haus deines Vaters willkommen zu heißen.‹ Verstehst du?«
Das kleine eurasische Kind nahm den Briefbogen wieder in die Hand und runzelte die Stirn. Nach einem Moment schüttelte das Mädchen den Kopf.
»Nein, bitte«, sagte es höflich, wobei es den Buchstaben ›i‹ lang gezogen aussprach. »Das ist richtig. Sera freut sich, dich im Haus ihres Vaters zu sehen.«
Roxane stand auf. Mit der linken Hand strich sie sich den Rock über den Hüften glatt, während sie mit der rechten die Jalousie am Fenster anhob. Sonnenlicht fiel in den Raum, und das Mädchen zwinkerte und wandte sich kurz ab. Dann hob es Roxane sein herzförmiges Gesicht entgegen. Das blauschwarze, lose geflochtene Haar fiel Sera von der Schulter und gab den Blick auf zwei blutrote Rubinstecker in den Ohren frei. Ihr Gesicht war fein geschnitten, sehr hübsch und ausgesprochen orientalisch. Ihre Augen waren allerdings mehr rund als oval und von dichten dunklen Wimpern umgeben. Und wie Roxane bemerkte, trugen sie eine charakteristische, vielsagende Farbe – sie waren grün, flaschengrün.
»Wie war dein Name?«, fragte Roxane leise nach.
»Sera«, antwortete das Mischlingskind ihres Vaters mit einer eleganten Geste seiner Hand. Roxane starrte das hübsche Kind an und hätte sich am liebsten entsetzt abgewandt. Sie atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln.
»Sera«, wiederholte sie. »Das ist ein sehr hübscher Name. Wo warst du denn seit meiner Ankunft? Warum haben wir uns bisher noch nicht gesehen?«
»Ich war im Haus
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