Palast der Stürme
meiner Mutter«, antwortete sie nüchtern.
»Wo ist das?«
»Hinter diesem Haus. Aus den Fenstern des oberen Stockwerks kann man das Dach sehen.«
Hinter dem Haus lagen die weiß getünchten Hütten der Bediensteten ihres Vaters; dort wohnten der Stallbursche, der Träger, der Gärtner, der Koch und der Wäscher. Roxane ging zum Schreibtisch zurück und setzte sich auf den Stuhl ihres Vaters. »Sie wohnt also nicht hier, Sera?«
Das Kind kletterte auf den Schreibtisch, schob unbekümmert alle Gegenstände zur Seite und ließ sich nieder. Dann zupfte es seinen Rock über den dünnen Beinchen zurecht.
»Sie lebt nicht in diesem Haus, Roxane«, erklärte Sera, nachdem sie es sich gemütlich gemacht hatte. »Sie würde sich schämen.«
»Schämen?«, wiederholte Roxane. »Wofür? Das verstehe ich nicht.«
»Weil sie und Colonel Max … äh, sie sind nicht verheiratet«, erklärte Sera, nachdem sie eine Weile über diese heikle Frage nachgedacht hatte.
»Hm. Und du?«
»Ich?« Das Mädchen rutschte über die verschrammte Holzplatte. »Ich schäme mich nicht. Colonel Max liebt mich.«
Roxane hatte sich natürlich aus Neugier nach den Wohnverhältnissen erkundigt. Seras Antwort hatte den Kern der Sache getroffen und ihr mehr verraten, als Roxane, die noch schockiert von ihrer Entdeckung war, im Augenblick lieb war.
»Natürlich tut er das«, erwiderte Roxane zerstreut. Sie legte eine Hand auf den Schreibtisch und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Sera beobachtete sie mit weit geöffneten Augen. Sie war offensichtlich ein geduldiges Kind, denn sie stellte keine Fragen.
Das Geräusch von Männerstimmen riss Roxane aus ihren Gedanken. Der Vorhang an der Tür wurde beiseitegeschoben, und ihr Vater tauchte mit zwei Männern auf.
»Colonel Max!«, rief Sera und sprang auf den Boden. Hastig bemühte sie sich, den Schreibtisch wieder in Ordnung zu bringen. Roxane legte ihr die Hand auf den Arm, um sie von ihren hektischen Bemühungen abzuhalten. Die beiden Männer sahen von Roxane zum Colonel, entschuldigten sich und verließen den Raum.
»Roxane …«
»Wann wolltest du es mir sagen?«, fragte sie ihren Vater, ohne aufzustehen.
Max Sheffield ging ein paar Schritte weiter und ließ sich neben der Tür auf einen Stuhl sinken. Mit einer Hand hielt er seine Uniformmütze zwischen den Knien fest, mit der anderen tupfte er sich mit einem Tuch Stirn und Nacken ab. Dann hustete er in sein Taschentuch.
»Es war peinlich, Roxane …«
»Peinlich? Für wen? Für dich, oder für die, die du zurückgelassen hast?«
»Ich konnte die Vergangenheit nicht ändern, Roxane.«
Roxane runzelte die Stirn. Mit einem Mal brannten ihre Wangen, und ihre Augen wurden feucht.
Ich werde nicht weinen, hatte sie Collier gesagt. Weder wegen dir noch wegen eines anderen Mannes.
Sie straffte den Rücken. Sera hatte sich, verschreckt durch diese rätselhafte Unterhaltung, hinter den Stuhl gekauert. Roxane streckte den Arm aus und nahm die kleine Hand des Mädchens.
»Ich verstehe, dass du die Vergangenheit nicht ändern konntest, aber du wusstest, dass ich kommen würde. Du hast mich hierhergebeten. Mit einer Vorwarnung hätte ich mich wappnen können.«
Max zog den Kopf ein, stützte einen Ellbogen an der Armlehne ab und kratzte sich an einer trockenen Hautstelle am Unterarm. »Eine Vorwarnung hätte mir möglicherweise den Todesstoß versetzt«, murmelte er und sah auf. »Hättest du Verständnis dafür aufgebracht? Hättest du mir vergeben?«
Roxane sah ihm schweigend und nüchtern in die Augen, während sie durch leicht geöffnete Lippen ausatmete.
»Zumindest habe ich hier meine Pflicht getan, auch wenn ich zuvor versagt habe.«
»Irgendwie trägt dieses Endergebnis – so edel es auch sein mag – nicht dazu bei, dass ich mich besser fühle«, erklärte Roxane. »Warum erlaubt sich ein Mann, ein Geheimnis von solcher Tragweite zu hüten, nur um es dann, nach einer unvermeidlichen Entdeckung, als belanglos abzutun? Das ist Selbstbetrug, findest du nicht?« Sie erhob sich und ging, Sera im Schlepptau, zur Tür. Dort blieb sie kurz stehen und sah auf den Mann hinunter, der ihr Vater war – der tatsächlich der Vater von ihnen beiden war. Sie berührte leicht seine Schulter mit den Fingerspitzen.
»Ich kann nicht versprechen, dass ich es verstanden oder dir verziehen hätte, wenn ich es eher gewusst hätte. Wir haben zu lange getrennt voneinander gelebt – getrennt nicht nur durch die Entfernung. Ich hätte dich
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