Palazzo der Liebe
ist meine Mutter, das andere meine Tante Fran. Sie standen einander immer sehr nah …“ In seiner Stimme lag ein gepresster Ton, den Sophia nicht einordnen konnte.
„Lebt deine Mutter noch?“
„Sie ist sogar sehr lebendig. Niemand würde ihr wahres Alter erraten.“
„Gibt es von ihr kein späteres Porträt?“
„Leider nicht, das Porträt der Zwillinge war die letzte Arbeit, die in Auftrag gegeben wurde.“
Versonnen starrte Sophia auf das Bild der beiden Mädchen. „Du siehst deiner Mutter überhaupt nicht ähnlich“, stellte sie fest.
„Nein. Sowohl im Aussehen wie im Temperament komme ich ganz nach meinem Vater.“
„Ist er …?“
„Er ist so fit, wie man es in seinem Alter nur sein kann“, klärte Stephen sie auf. „Nach einem harten Arbeitsleben genießt er jetzt seinen Ruhestand in vollen Zügen. Momentan machen meine Eltern eine Art Weltreise. Meine Mutter hatte in ihrem Leben sehr viel mehr Glück als Fran. Sie und mein Vater sind auch nach dreißig Jahren Ehe noch ein Liebespaar im besten Sinne des Wortes.“
Stephen räusperte sich und lächelte Sophia zu. „Nun, was sagst du zu der Ahnengalerie?“
„Du planst doch nicht etwa, dich auch nur von einem dieser Porträts zu trennen?“
„Würdest du es tun?“
„Niemals! Es wäre eine absolute Schande“, rief Sophia vehement und hielt sich dann die Hand vor den Mund. „Verzeihung, es steht mir nicht zu, ein Urteil darüber zu fällen, aber …“
„Aber ich habe dich gefragt, weil deine Meinung mich interessiert“, vollendete er ihren Satz. „Gina denkt ganz anders als du. Sie meint, da die Kunstexperten sich so für die Porträts interessieren, sollte ich versuchen, so viele wie möglich loszuwerden.“
„Wenn du das Geld für die Renovierung des Palazzo brauchst?“
„Tue ich nicht.“
„Dann würde ich sie an deiner Stelle behalten“, entfuhr es Sophia spontan.
„Rätst du mir das als Kunstliebhaberin?“, fragte er neugierig.
„Nur zum Teil. Wichtiger scheint mir der Aspekt, dass sie in ihrer Gesamtheit einen einmaligen faszinierenden Familienstammbaum symbolisieren.“
„Du hast natürlich recht, und Fran war absolut deiner Meinung. Deshalb würde ich nie auch nur eines davon abgeben. Aber jetzt schauen wir uns mal die Bilder an, die Fran ausdrücklich zum Verkauf bestimmt hat.“
Damit führte er sie durch den prächtigen Wohntrakt, in dem die Familie früher gelebt hatte, zu einem kleinen, wesentlich schlichter eingerichteten Raum, den er als das Lieblingsrefugium seiner Tante bezeichnete.
„Das war ihr ganz privater Rückzugsort“, erklärte er. „Hier hat sie ihre Post erledigt, ihr Tagebuch geführt und ihre Lieblingsmusik gehört.“
Unglaublich exquisit eingerichtet, wirkte das große Wohnzimmer doch leblos und steril, da persönliche Dinge wie Fotos oder frische Blumen fehlten. Sophia starrte auf die hohen bogenförmigen Fenster mit ihren alten, etwas unebenen Fensterscheiben, die leichte Farbunterschiede aufwiesen.
Plötzlich überfiel sie das Gefühl, nicht zum ersten Mal in dem Raum zu stehen. Sie erinnerte sich an diese altertümlichen Fenster …
„Was ist?“, fragte Stephen, dem ihre Anspannung nicht entging.
Sie nagte an ihrer Unterlippe. „Ich weiß, dass du denkst, ich könnte Bilder vom Palazzo in einer Illustrierten gesehen haben, aber … ich erinnere mich auch an diesen Raum. Und ich habe nicht nur das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, sondern bin mir sogar sicher, dass ich damals glücklich war …“
Natürlich klang das lächerlich, aber wenn sie die Augen schloss, sah sie sich selbst als kleines Kind dort drüben neben einem der hohen Fenster auf den Knien von jemandem sitzen.
Auf den Knien einer Frau, die sie lächelnd an sich drückte. Einer Frau, die sie auf den Boden setzte, ihren Diamantring vom Finger nahm und den Namen Sophia in das unebene Glas einer der Fensterscheiben ritzte.
„Was ist los?“, fragte Steven beunruhigt. „Du wirkst wie in Trance.“
Der Klang seiner Stimme löschte das Bild in ihrem Inneren wie ein Stein, der ins Wasser fällt und die spiegelnde Oberfläche zerstört.
„Ich … ich hatte gerade wieder ein Dejà-vu.“
„Erzähl mir davon.“
„Ich war noch sehr klein und saß auf dem Schoß einer Frau. Sie ritzte meinen Namen mit einem Diamantring in eines der Fenster.“
„In welches Fenster?“
„Es ist das in der Mitte“, erwiderte sie ohne nachzudenken. „Etwa in einem Meter Höhe vom Boden.“
Bevor er zum
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