Pampelmusenduft (St. Elwine) (German Edition)
den Kopf. Sie sprach darauf kurz mit einer der Kranke n schwestern und verschwand wieder.
Trudy Rowland hatte seine Akte gelesen. Selten hatte etwas so sehr ihr Herz berührt. Vielleicht, weil der Junge im gleichen Alter wie ihre Tochter war. Niemand stand an seiner Seite, er war ganz allein in dieser Welt. Maureen konnte ihn nicht mehr beschützen. Trudy hatte die junge Frau zwar nie kennen gelernt, fühlte seltsamerweise aber eine Art Seelenverwandtschaft. Ich achte statt deiner auf ihn, hatte sie beim Lesen der Akte immer wieder gedacht. Ihr war bewusst, dass sie das eigentlich nicht tun durfte, aber sie konnte nicht anders.
Kurz nachdem Trudy gegangen war, kam die Schwester heran und gab ihm eine brennende Spritze in den Po, der noch drei Tage danach schmerzte. D a für konnte er allerdings endlich tief und fest schlafen.
Die Sonde wurde ebenso unsanft entfernt, wie sie eingebracht worden war und Tyler zog seine Lehren daraus. Er begann zu essen und er hielt sich in den nächsten zehn Jahren auch daran.
Immer wieder zog es ihn in den Musikraum, die sportlichen Aktivitäten interessierten ihn nicht sonderlich. Seine Muskeln wurden bereits durch die tägliche Feldarbeit gestählt. Aus dem dünnen hochaufgescho s senen Jungen, wurde schon bald ein schlanker, jedoch breitschultriger Mann. Er hing viel mit Archie, dem alten Schwarzen herum und erfuhr, dass der an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt gewesen war. Zwei Polizeioffiziere waren dabei verletzt worden, zu Tode war niemand geko m men. Archie war zu fünfundsiebzig Jahren Haft verurteilt worden.
„Aber warum so viel?“, wollte Tyler fassungslos wissen.
„Ich bin schwarz“, antwortete der alte Mann schlicht.
Weil Tyler die Sklavenlieder mitsang und viel mit Archie zusammen hing, lenkte er den Unmut der Ku-Klux-Klan-Leute auf den Plan. Einmal hatten sie versucht, ihn mit einem angespitzten Schraubenzieher nieder zu stechen. Einem glücklichen Zufall verdankte er mit heiler Haut davon gekommen zu sein.
Eines Tages fand Tyler den Musikraum leer vor. Er konnte sein Glück kaum fassen und nahm eine Gitarre zur Hand. Als er zu spielen begann, vergaß er die Welt um sich herum. Er summte leise den Text dazu. Beim dritten Song, „Lola“ von den Kinks, konnte er sich nicht mehr zurückhalten und sang laut. Sein Körper bewegte sich im Rhythmus der Musik und in seiner Seele begann das Eis zu tauen. Mit geschlossenen Augen ging er zum nächsten Stück über. „All Day and all of the Night“, ebenfalls von den Kinks, mit einem kurzen Gitarrensolo. Unglaublich, er hatte so lange nicht mehr gespielt, doch seine Hände fanden die richt i gen Saiten und Griffe scheinbar ganz von selbst. Bei den letzten Tönen brach schallender Applaus los. Erschrocken riss er die Augen auf. Der Raum war voll mit begeisterten Zuhörern. Dies war das erste Mal, das Trudy ihn lächeln sah.
Von diesem Tag an, hatte er einen festen Platz unter den Musikern. Langsam gewöhnte sich Tyler ein. Er brachte die täglichen acht Stunden Feldarbeit irgendwie hinter sich und lebte einzig für die Zeit, die er mit musizieren verbringen konnte. Er hielt Ordnung in seiner Zelle und schrubbte die Kloschüssel peinlich sauber. Nach wie vor widerte es ihn an, dicht neben einer Toilette schlafen zu müssen. Er konnte diese Dinge nicht beeinflussen und akzeptierte sie letztlich. Die anfänglichen Verdauungsprobleme erledigten sich ebenfalls recht bald. Das Erlebnis mit der Nasensonde war ihm noch in frischer Erinnerung. Eine ähnliche Prozedur mit einem Einlauf oder etwas in der Art, wollte er sich lieber ersparen. Darum trimmte er seinen Darm auf eine Entleerung kurz nach Zelleneinschluss. Wenn dies mal nicht gelang, blieb ihm immer noch die Nacht.
Das erste Weihnachten ohne Maureen oder Rodney war nicht leicht. Tyler überstand es irgendwie. Im Januar kündigte Trudy ihm einen Besucher an: sein Pflichtverteidiger, der ihm erklärte, dass es keine Revis i on geben würde. Der Mann faselte etwas von eindeutiger Beweislage, Verschwendung von Steuergeldern, bla, bla, bla ... Tyler hörte nach fünf Minuten nicht mehr zu und bat stattdessen darum, in seine Zelle zurück gehen zu dürfen. Es kam nie wieder jemand um ihn zu besuchen. Das neue Jahr begann ruhig in A n gola.
„Die Musik ist deine Bestimmung“, brummte Archie und zeigte sein zahnloses Lächeln. „Wenn du spielst, bist du ein ganz anderer Mensch. Sag mir endlich, warum du hier bist - he!“
Tyler warf ihm einen langen Blick zu.
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