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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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jetzt an die Tür pochen, als Kalbiye mit ihrer Trauer ein
Mittagsschläfchen halten wollte?! Da ich wußte, daß ihr die neuesten, mit dem
Schiff aus China eingetroffenen Seidenstoffe oder die Taschentücher aus Bursa
höchst gleichgültig waren, ging ich geradewegs auf mein Thema los und teilte
ihr, ohne auch nur so zu tun, als öffnete ich mein Bündel, sogleich den Kummer
der weinenden Şeküre mit. »Der Gedanke, Frau Kalbiye, unbewußt jemanden
verletzt zu haben, mit dem sie durch dasselbe Leid verbunden ist, vermehrt den
Schmerz der armen Şeküre«, sagte ich.
    Frau Kalbiye bestätigte hochmütig,
daß sie nicht nach Şeküre gefragt, ihr keinen Beileidsbesuch abgestattet
und kein Mitgefühl ausgedrückt, ja, es nicht einmal fertiggebracht habe, eine
Halwa zu machen und hinzuschicken. Natürlich lauerte hinter ihrem Stolz auch
eine Freude, die sie nicht verbergen konnte – man hatte ihre Verletztheit
wahrgenommen! Und genau von diesem schwachen Punkt aus versuchte eure kluge
Ester, hinter die Gründe für den Zorn und die damit verbundenen Geheimnisse zu
kommen.
    Es dauerte nicht lange, bis Kalbiye
ihren Ärger auf den verstorbenen Oheim Efendi des in Arbeit befindlichen
Buches wegen zugab. Sie erklärte, ihr seliger Ehemann habe diese Tätigkeit
nicht angenommen, um ein paar Asper mehr zu verdienen, sondern weil ihn der
Oheim Efendi davon überzeugt habe, daß dieses Buch vom Padischah beauftragt
sei. Als ihr seliger Mann jedoch sehen mußte, daß viele der Blätter, die ihm
der Oheim Efendi zum Vergolden überlassen hatte, nach und nach von der
ornamentierten Seite zum richtigen Bild wurden und diese Bilder unvorstellbare
Zeichen von Unglauben, ja, Lästerung enthielten, sei er sehr verstört gewesen
und habe sich nicht zwischen richtig und falsch entscheiden können. Weil sie,
die Witwe, aber viel vernünftiger und weitdenkender war als ihr verstorbener
Fein Efendi, fügte sie vorsichtshalber hinzu, daß ihm alle diese Zweifel nicht
plötzlich, sondern ganz allmählich gekommen seien, und der arme Fein Efendi, da
er nie auf eine ganz eindeutige Lästerung stieß, sich damit beruhigt habe, er
müsse sich seine Besorgnisse eingebildet haben. Ohnehin habe der selige Fein
Efendi die Predigten des Nusret Hodscha von Erzurum niemals versäumt und
tiefes Bedauern verspürt, wenn er nicht zur rechten Zeit beten konnte. So wie
er wußte, daß manch ein mieser Kerl in der Buchmalerwerkstatt sich über ihn
lustig machte, weil er tief und fest im Glauben stand, war ihm auch sehr wohl
bewußt, daß er den frechen Spott dem Neid auf sein Talent und seine Kunst
verdankte.
    Eine große, glänzende Träne rann aus
Kalbiyes glänzendem Auge ihre Wange hinab, und die wohlmeinende Ester beschloß,
bei erster Gelegenheit einen besseren Ehemann als den verstorbenen für sie zu
finden.
    »Der Selige hat mir all diese Sorgen
nicht so ohne weiteres mitgeteilt«, erklärte Kalbiye vorsichtig. »Ich habe, an
was ich mich erinnerte, selbst zusammengesetzt und bin zu dem Schluß gekommen,
daß uns das ganze Unglück wegen der Bilder des Oheim Efendi zugestoßen ist, den
er in der Nacht vor seinem Tod aufgesucht hatte.«
    Das war eine Art Entschuldigung. Als
Antwort darauf sagte ich zu ihr, daß der Oheim Efendi möglicherweise von
demselben Schurken ermordet worden sei, und wies auf die gemeinsamen Schicksale
und Feinde Şeküres und Kalbiyes hin. Auch die zwei großköpfigen
Waisenkinder, die mich jetzt aufmerksam aus einem Winkel beobachteten,
verwiesen auf die Ähnlichkeit ihrer beider Lage. Wobei die von Şeküre
besser, reicher und geheimnisvoller war, wie mir meine gnadenlose
Ehestifterlogik sofort in Erinnerung rief. Ich redete drauflos, wie es mir
einfiel: »Falls ich einen Fehler gemacht habe, bitte ich um Verzeihung, läßt Şeküre
dir sagen. Sie versichert dich ihrer Freundschaft als Schwester und Schicksalsgenossin
und bittet dich, folgendes zu bedenken und ihr zu helfen: Hat der selige Fein
Efendi erwähnt, als er das letztemal nachts von hier fortging, daß er außer dem
Oheim Efendi noch jemand anders besuchen würde? Hast du je daran gedacht, daß
er sich vielleicht noch mit jemand anders treffen wollte?«
    »Dies hier hat man in der Tasche
meines armen lieben Feins gefunden«, erklärte sie und hielt mir ein gefaltetes
Blatt entgegen, das sie zwischen Nähnadeln und Stoffresten aus einem Weidenkorb
hervorholte, auf dessen Deckel eine riesige Walnuß lag.
    Als ich das zerdrückte, grobe Papier
in die Hand nahm und

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