Pamuk, Orhan
und ferne Verwandte, Freunde und Bekannte,
und auch ich vergoß lange Zeit Tränen und schlug mich an die Brust. Manchmal
stützte ich mich auf das hübsche Mädchen neben mir, und wir schwankten beide
weinend hin und her, dann wieder ergriff mich der Kummer über mein eigenes
elendes Leben, und ich beklagte meine Sorgen. Wenn ich jede Woche einmal so
weinen könnte, würde ich vergessen, daß ich den ganzen Tag durch die Straßen
ziehe, um mein Brot zu verdienen, daß ich erniedrigt werde, weil ich fettleibig
und eine Jüdin bin, und wäre eine Ester, die redseliger ist denn je.
Ich mag die Feiern, weil ich in der
Menge vergesse, daß ich ein schwarzes Schaf bin, und mich außerdem nach
Herzenslust vollstopfen kann. Ganz versessen bin ich auf das Baklawa, die
Pfefferminzpaste, das Marzipanbrot und die Obstfladen der Festtage, auf den
Pilaw mit Fleisch und die Tassen-Pastetchen der Beschneidungsfeiern, auf den
Kirschsaft während der Paraden, die der Padischah auf dem Hippodrom abhält,
auf alles Eßbare während der Hochzeiten und auf die Halwa mit Sesam, Honig oder
Duftessenzen, die zum Leichenschmaus aus der Nachbarschaft kommen.
Leise schlüpfte ich auf den Flur
hinaus, zog meine Schuhe an und ging hinunter. Als ich mich der Küche zuwandte,
kam durch die halboffene Tür des Zimmers neben dem Stall ein merkwürdiges
Geräusch, so daß ich zwei Schritte machte, hineinschaute und sah, wie Şevket
und Orhan den Sohn einer oben im Hause klagenden Frau mit Stricken festgebunden
hatten und mit den alten Pinseln des Verstorbenen das Gesicht des Jungen
bemalten. »Wenn du wegzulaufen versuchst, werden wir dich so schlagen«,
erklärte Şevket und ohrfeigte den Jungen.
»Könnt ihr nicht lieb und nett
miteinander spielen, Kinder, ohne euch etwas anzutun?« fragte ich so samtweich
und falsch wie nur möglich.
»Misch dich nicht ein!« schrie Şevket.
Dann sah ich neben ihnen auch das
blonde, verschüchterte Schwesterchen des Jungen, den sie mißhandelten, und
fühlte mich irgendwie eins mit ihr. Vergiß alles, Ester!
Hayriye musterte mich zweifelnd, als
ich in die Küche kam.
»Ich habe mir die Augen ausgeweint
und bin ganz vertrocknet, Hayriye«, sagte ich, »gib mir um Himmels willen ein
Glas Wasser.«
Sie gab es mir schweigend. Bevor ich
das Glas zum Mund führte, sah ich ihr in die vom Weinen geschwollenen Augen.
»Man redet, daß der arme Oheim
Efendi schon vor Şeküres Eheschließung tot gewesen ist«, sagte ich. »Man
kann den Leuten ja schlecht den Mund zunähen! Es heißt sogar, er sei nicht
eines natürlichen Todes gestorben.«
Sie blickte plötzlich gezielt auf
ihre Fußspitzen hinunter. Dann hob sie den Kopf und sagte, ohne mich
anzuschauen: »Allah bewahre uns vor leeren Beschuldigungen!«
Die Geste sollte erst einmal
bestätigen, was ich gesagt hatte, dann wollte sie mich durch die Ausdrucksweise
ihrer Worte spüren lassen, daß sie unter Zwang sprach.
»Was ist los?« flüsterte ich
verschwörerisch.
Aber Hayriye hatte natürlich bei
aller Unentschlossenheit begriffen, daß ihr nach dem Tod des Oheim Efendi
keine Hoffnung geblieben war, sich gegen Şeküre durchzusetzen. Sie hatte
ja auch vor kurzem dort oben die bittersten Tränen vergossen.
»Was soll jetzt aus mir werden?«
fragte sie.
»Şeküre liebt dich sehr«,
erklärte ich in meinem für Nachrichten üblichen Tonfall. Während ich die Deckel
von den Schüsseln hob, die zwischen den Tontöpfen mit Traubenmost und
Essiggemüse aufgereiht standen, hie und da vom Rand mit dem Finger eine Kostprobe
nahm, über manche aber nur meine Nase hielt und sie beroch, fragte ich bei
jeder einzelnen Halwaschüssel, wer sie geschickt hatte.
»Die ist von Kasım Efendi aus
Kayseri, die von dem Gesellen der Buchmalertruppe, der zwei Straßen weiter
wohnt, die vom Schlosser Hamdi dem Linkshänder, die von der jungen Braut aus
Edirne ...« zählte Hayriye auf, als Şeküre sie unterbrach: »Kalbiye, die
Frau des seligen Fein Efendi ist weder gekommen, um ihr Beileid auszusprechen,
noch hat sie eine Nachricht oder Halwa geschickt!«
Sie ging von der Küchentür auf den
Hof am Fuß der Treppe zu. Ich begriff, daß sie mich unter vier Augen sprechen
wollte, und folgte ihr.
»Fein Efendi war nicht ein Feind
meines Vaters. Wir haben am Tag seiner Beerdigung unsere Halwa hingeschickt.
Ich würde gern wissen, was los ist«, sagte Şeküre.
Mir war klar, was sie meinte, und
ich erklärte: »Ich gehe sofort hin und finde es heraus.«
Sie küßte mich, weil
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