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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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näher betrachtete, erkannte ich viele Figuren, deren
Linien im Wasser zerlaufen waren. Gerade als mir aufging, was sie bedeuteten,
sprach Kalbiye meinen Gedanken aus.
    »Es sind Pferde«, sagte sie. »Der
selige Fein Efendi hat jahrelang nichts weiter gemacht als illuminiert, hat nie
ein Pferd gezeichnet, und niemand hat je von ihm verlangt, ein Pferd zu
zeichnen.«
    Eure alte Ester besah sich die rasch
hingeworfenen, doch im Wasser zerlaufenen Pferdeskizzen und konnte so gut wie
nichts damit anfangen.
    »Wenn ich dieses Papier mitnehme und
Şeküre bringe, wird sie sehr froh sein«, sagte ich.
    »Wenn Şeküre dieses Papier
haben möchte, soll sie selbst herkommen«, meinte Kalbiye hochmütig.

40
  Mein Name ist Kara
    Ihr habt es vielleicht inzwischen verstanden – für Männer wie mich, einen Leiderfahrenen also, dem Liebe und Schmerz, Glück
und Elend als Vorwand für eine am Ende unaufhörliche Einsamkeit dienen, gibt es
im Leben weder große Freuden noch allzu tiefen Kummer. Nun sage ich nicht, daß
wir unfähig sind, die Seelen anderer zu verstehen, wenn sie von diesen
Gefühlen erschüttert werden, im Gegenteil, wir haben mehr als genug Verständnis
für solche, die in die Abgründe dieser Gefühle stürzen. Was wir nicht verstehen
können, ist die seltsame Unruhe, die sich dabei in unserer eigenen Seele
einnistet. Diese lautlose Unruhe, die unseren Verstand und unsere Herzen
verdunkelt, setzt sich überall dort fest, wo die Empfindung von wahrer Freude
und Trauer herrschen sollte.
    Ich hatte, Allah sei Dank, ihren
Vater beerdigt und war raschen Schrittes vom Begräbnis nach Hause geeilt, doch
als ich meine Şeküre mitfühlend umarmte, warf sich meine Frau mit ihren
mich feindlich musternden Kindern auf ein Sitzkissen und begann bitterlich zu
weinen, so daß ich fassungslos stehenblieb. Ihr Kummer war mein Sieg, denn auf
einmal war ich mit dem Traum meiner Jugend vermählt, war frei von ihrem Vater
und seiner Geringschätzung für mich und war der Herr des Hauses geworden. Wer
würde meinen Tränen Glauben schenken? Aber nein, so war es nicht, glaubt mir,
ich wollte ehrlich trauern, wenn es mir auch nicht gelingen wollte. Der Oheim
war stets ein Vater für mich gewesen, viel mehr als mein eigener Vater. Weil
außerdem der Wichtigtuer von Imam, der die Leiche gewaschen hatte, den Mund
nicht halten konnte, war das Gerede von dem unnatürlichen Tod des Oheims
inzwischen durch das ganze Viertel gewandert, wie ich während der Trauerfeier
im Hof der Moschee zu spüren bekam. Aus diesem Grund wollte ich meine Trauer
bekunden, so daß man mir meine Unfähigkeit zu weinen nicht zum Nachteil
auslegen würde, denn wir fürchten uns am meisten davor, wie ihr wißt, als einer
mit »steinernem Herzen« hingestellt zu werden.
    Verständnisvolle alte Tanten halten,
damit solche wie ich nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, immer
eine Ausrede bereit: »Er weint innerlich!« sagen sie. Während ich innerlich
weinte und versuchte, mich in einer Ecke vor den Nachbarn und entfernten
Verwandten zu verbergen, die sich aufspielten und erstaunliche Tränenströme
vergossen, war ich noch unschlüssig, ob ich mich als Herr des Hauses zeigen und
ein Machtwort sprechen sollte, als es am Tor klopfte. Für einen Augenblick
dachte ich an Hasan und seine Leute und geriet in Panik, doch andererseits war
mir alles recht, um mich aus dieser Tränenhölle zu retten.
    Es war ein Page aus dem Saray.  Man
rief mich in den Palast. Das verwirrte mich.
    Als ich aus dem Hof trat, fand ich
im Schmutz auf der Erde einen Asper. Ob ich mich wohl fürchtete, weil man mich
in den Saray rief? Ja, ich fürchtete mich, doch ich war auch zufrieden, draußen
in der Kälte auf den Straßen unter Pferden, Hunden, Bäumen und Menschen zu
sein. Genauso wie jene Phantasten, die meinen, sie könnten die Grausamkeit der
Welt durch ein freundliches Gespräch mit der Kerkerwache über dies und jenes,
die Schönheiten des Lebens, die Enten auf dem See und die seltsame Gestalt
einer Wolke am Himmel versüßen, bevor sie dem Scharfrichter übergeben werden,
versuchte ich mit dem Pagen Freundschaft zu schließen, doch vergebens, denn er
war ein todernster, pickliger und schweigsamer Junge. Während wir an der Hagia Sophia
vorbeikamen und ich bewundernd wahrnahm, wie zart sich die Schatten der
schlanken Zypressen in den nebelverhangenen Himmel reckten, ließ mir nicht der
Schrecken darüber die Haare zu Berge stehen, daß ich Şeküre nach so vielen
Jahren,

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