Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
Vom Netzwerk:
ich nicht lange
um den heißen Brei herumgeredet hatte. Wir hielten uns umarmt in der beißenden
Kälte, ohne die leiseste Bewegung. Dann streichelte ich meiner schönen Şeküre
übers Haar.
    »Ich fürchte mich, Ester«, sagte
sie.
    »Hab keine Angst, mein Leben«,
beruhigte ich sie. »Jedes Ding hat auch eine gute Seite. Sieh doch, schließlich
hast du geheiratet.«
    »Ich weiß aber nicht, ob es richtig
war«, sagte sie. »Aus diesem Grund habe ich ihn ferngehalten von mir und die
Nacht bei meinem armen Vater verbracht.«
    Sie machte die Augen weit auf und
schaute mich direkt an, als wolle sie fragen: »Verstehst du?«
    »Hasan behauptet, eure Eheschließung
habe keinen Wert vor dem Kadi«, sagte ich. »Er schickt dir dies.«
    »Damit ist Schluß«, erklärte sie,
öffnete das Briefchen trotzdem und las es sofort, doch sie teilte mir diesmal
den Inhalt nicht mit.
    Recht hatte sie, denn wir waren nie
allein gewesen, während wir uns im Hof umarmt hielten: Ein grinsender
Schreiner, der den Laden des Flurfensters, welcher morgens aus irgendeinem
Grund heruntergefallen und zerbrochen war, wieder einsetzte, beäugte von oben
herab uns und gleichzeitig die klagenden Frauen im Haus, und im selben
Augenblick kam Hayriye aus dem Haus und lief, um das Hoftor für den Sohn eines
treuen Nachbarn zu öffnen, der angeklopft und »Hier ist Halwa!« gerufen
hatte.
    »Er ist schon seit längerer Zeit
begraben«, sagte Şeküre, »und ich spüre, daß sich die Seele meines armen
Väterchens ein für allemal von seinem Leib getrennt hat und zum Himmel
aufgestiegen ist.«
    Sie löste sich aus meinen Armen,
schaute zum blanken Himmel auf und sprach ein langes Gebet.
    Ich fühlte mich auf einmal Şeküre
so fremd und fern, daß ich nicht verwundert gewesen wäre, eine Wolke an dem
Himmel zu sein, zu dem sie aufsah. Sowie sie ihr Gebet beendet hatte, küßte
mich die Schöne liebevoll auf beide Augen.
    Dann sagte sie: »Solange der Mörder
meines Vaters lebt, Ester, werden wir, meine Söhne und ich, keinen Frieden
finden auf dieser Welt.«
    Es gefiel mir, daß sie den Namen
ihres Gatten nicht erwähnte.
    »Geh zum Haus des Fein Efendi, horch
die Witwe ein bißchen aus und finde heraus, warum sie uns keine Halwa geschickt
hat. Und bring mir die Nachricht sofort.«
    Ich fragte: »Hast du Hasan etwas zu
sagen?«
    Ich schämte mich, aber nicht, weil
ich die Frage gestellt, sondern weil ich sie dabei nicht angeschaut hatte. Um
meine Scham zu verbergen, hielt ich Hayriye an und öffnete den Deckel der
Schüssel in ihrer Hand. »Oh, Grießhalwa mit Pistazien«, schwelgte ich und
steckte mir ein Häppchen in den Mund. »Und auch Bitterorangen haben sie
beigemischt.«
    Es machte mich froh zu sehen, daß Şeküre
mir lieb zulächelte, als sei alles in guter Ordnung.
    Ich nahm mein Bündel auf und ging
hinaus, hatte aber noch keine zwei Schritte getan, als ich am Ende der Straße
Kara entdeckte. Der frischgebackene Ehemann, der soeben seinen Schwiegervater
beerdigt hatte, war sehr zufrieden mit seinem Leben, wie mir seine stolze
Haltung verriet. Um seine gute Laune nicht zu vertreiben, bog ich von der
Straße ab zu den Gemüsebeeten und ging durch den Garten jenes Hauses, in dem
der gehenkte Bruder der Liebsten des berühmten jüdischen Arztes Mosche Hammond
gelebt hat. Jedesmal, wenn ich hier durchgehe, bereitet mir der hier verbreitete
Todeshauch tiefen Kummer, und so vergesse ich wieder, daß ich einen Käufer für
diesen Besitz finden muß.
    Auch im Haus des Fein Efendi war der
Todeshauch jenes Gartens zu finden, aber keine Trauer. Ich, Ester, die ich in
Tausenden von Häusern ein und aus gehe und Hunderte von Witwen kenne, weiß
genau, daß Frauen, die ihren Ehemann früh verlieren, entweder niedergeschlagen
und tieftraurig oder zornig und aufrührerisch sind (meine liebe Şeküre hat
ihren Anteil von beidem behalten). Frau Kalbiye hatte vom Gift des Zornes
getrunken, und ich erkannte sofort, daß dies meine Aufgabe erleichtern würde.
    Da Frau Kalbiye wie alle stolzen
Frauen, die vom Leben grausam behandelt wurden, in diesen schlechten Tagen
jeden, der an ihre Tür klopfte, zu Recht verdächtigte, daß er nur kam, um sie
zu bemitleiden, oder, was noch schlimmer war, um sich an ihrer traurigen Lage
zu weiden und sich heimlich über die eigene zu freuen, ließ sie keinerlei
Schönreden mit ihren Besuchern zu, sondern kam sofort zum wesentlichen Punkt,
ohne das leere Geschwätz mit blumigen Ausdrücken zu füllen. Warum mußte Ester
gerade

Weitere Kostenlose Bücher