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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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erste Begegnung der
beiden Liebenden; die Enthauptung des teuflischen Ungeheuers durch den Helden
Rüstern; den Kummer Rüstems, als er in dem getöteten Fremden den eigenen Sohn
erkennen muß; Mecnun, aus Liebe dem Wahnsinn verfallen, in der Wildnis unter
Löwen, Tigern, Schakalen und Hirschen; der Kummer Alexanders des Großen, der
sich zur Vogelschau in den Wald begibt, um vor dem Kriegszug die Zukunft zu
erkunden, und mit ansehen muß, wie ein riesiger Adler seine Waldschnepfe
zerreißt ... Unser müdes Auge ruht sich während des Lesens beim Anblick des
Bildes aus. Und falls es in der Geschichte für unseren Verstand, unsere
Phantasie etwas schwer Vorstellbares gibt, kommt uns das Bild sogleich zu
Hilfe. Es ist das farbige Erblühen der Geschichte. Ein Bild ohne Geschichte
ist undenkbar.
    Ich hielt es für undenkbar«, fügte
ich scheinbar reumütig hinzu. »Doch es sollte möglich sein. Vor zwei Jahren bin
ich wieder einmal als Gesandter unseres Padischahs nach Venedig gereist. Die
ganze Zeit über schaute ich mir die Bilder der Gesichter an, welche die italienischen
Meister gemalt haben, und zwar ohne zu wissen, welche Szene welcher Geschichte
dort abgebildet war, doch ums Verstehen bemüht und nach einer Geschichte
suchend. Als ich eines Tages in einem Palast einem Bild an der Wand
gegenüberstand, war ich gefesselt.
    Mehr als alles andere war es das
Bild eines Menschen, das Bild eines Menschen wie ich. Ein Ungläubiger
natürlich, nicht einer so wie wir. Doch je länger ich ihn ansah, um so mehr
meinte ich, ihm ähnlich zu sein. Dabei sah er mir in keiner Weise ähnlich! Er
hatte ein glattes, rundes Gesicht ohne hohe Wangenknochen, und da war keine
Spur von einem so hervorstehenden Kinn wie dem meinen. Er war mir keineswegs
ähnlich, doch warum auch immer, je mehr ich hinsah, bewegte es mein Herz, als
sei es ein Abbild von mir.
    Der venezianische Herr, der mich
durch den Palast führte, erklärte mir, jenes Bild zeige einen Freund, einen
Adligen, wie er selbst einer war. Und der hatte alle für sein Leben wichtigen
Dinge in sein Bild einfügen lassen: das Landgut, welches durch das offene
Fenster hinter ihm in der Landschaft zu erkennen war, das Dorf und ein Wald,
der mit seinen gemischten Farben wie wirklich erschien. Auf dem Tisch vor ihm
waren Uhr, Bücher, Zeit, das Böse, das Leben, Rohrfeder, Landkarte, Kompaß,
Schachteln mit Goldstücken darin, andere Dinge, dies und jenes und wer weiß
noch was zu sehen, wie auf vielen anderen Bildern, die ich nicht verstand, nur
ahnungsvoll ansehen konnte ... Da war auch der Schatten des Dämons, des
Teufels und dann, neben seinem Vater, ein traumhaft schönes Mädchen.
    Welche Geschichte sollte wohl dieses
Gemälde schmücken und ergänzen? Schließlich begriff ich beim Betrachten des
Bildes, daß es selbst die Geschichte war: nicht der Niederschlag einer
Geschichte, sondern etwas ganz Eigenes.
    Erstaunt und gefesselt stand ich
davor, und es ging mir nicht aus dem Sinn. Ich verließ den Palast, kehrte zum
Haus meines Gastgebers zurück und dachte die ganze Nacht über an das Bild. So
wollte ich auch gemalt werden. Nein, das stand mir nicht zu, auf diese Weise
mußte unser Padischah gemalt werden! Man sollte unseren Sultan malen, mit
allem, was sein war, mit allem, was sein Reich umfaßte und darstellte. Ich überlegte,
daß man anhand dieser Gedanken ein Buch malen könnte.
    Der italienische Meister hatte das
Bild jenes venezianischen Herrn auf solche Art und Weise gemalt, daß du es
sogleich als das seine erkennen konntest. Hättest du diesen Mann niemals vorher
gesehen und man würde dich auffordern, ihn in der Menschenmenge zu suchen, so
könntest du ihn mit Hilfe dieses Bildes unter Tausenden herausfinden. Die
italienischen Meister haben das Verfahren und die Kunstfertigkeit erlangt,
einen Menschen so zu malen, daß er sich von anderen nicht durch Kleidung und
Ehrenzeichen unterscheidet, sondern durch die Züge seines Gesichts. Das ist
es, was sie Porträt nennen.
    Wenn dein Gesicht einmal auf diese
Art gemalt wurde, kann dich niemand mehr vergessen. Und solltest du auch in
weiter Ferne sein, so wird sich, wer dein Bild betrachtet, dir nahe fühlen. Und
wer dich niemals lebend gesehen hat, kann dich Jahre nach deinem Tod Aug in
Auge anschauen, als stündest du vor ihm.«
    Lange Zeit schwiegen wir. Durch den
oberen Teil des kleinen, erst vor kurzem mit Wachstuch neu verkleideten
Fensters in dem Gang, der auf die Straße führt, des Fensters, dessen Läden

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