Pamuk, Orhan
Sohn wurde mir sogleich
bewußt, wie mich meine Erinnerung an Şeküres
Gesicht im Stich gelassen hatte. Trotz der gleichen feingeschnittenen Züge
entsprach das Kinn nicht dem, an das ich mich erinnerte. Deshalb mußte
natürlich auch der Mund meiner Geliebten kleiner und schmaler sein, als ich ihn
mir jahrelang vorgestellt hatte. Im Verlauf meiner zwölfjährigen Wanderschaft
von einer Stadt zur anderen war Şeküres
Mund von meiner Phantasie ständig erweitert worden, hatten mir ihre Lippen
wohl gleichmäßiger, aber auch größer und wie eine glänzende Kirsche voll und
unwiderstehlich vor Augen gestanden.
Das heißt, wäre ich im Besitz eines
Bildes von Şeküre im
Stil der italienischen Meister gewesen, hätte ich auf meiner Reise von zwölf
Jahren niemals das Gefühl gehabt, wurzel- und heimatlos zu sein, weil mir
irgendwo auf dem Wege die Züge meiner Geliebten ganz und gar aus dem
Gedächtnis entschwunden waren. Denn die ganze Welt ist euer Zuhause, solange
ihr nur im Innern das lebendige Antlitz einer Geliebten bewahrt, das euch ins
Herz geprägt wurde.
Şeküres Sohn sehen, mit ihm sprechen,
sein Gesicht von nahem betrachten und küssen zu können – das löste in mir
sofort jene Unruhe aus, die den Glücklosen, den Mördern und den Sündern zu eigen
ist. Eine innere Stimme forderte mich auf: »Schnell, such und finde Şeküre!«
Einen Augenblick lang dachte ich
daran, hinauszugehen, ohne dem Oheim etwas zu sagen, und die fünf dunklen Türen
zum Flur, deren eine zur Treppe führte – ich hatte sie aus dem Augenwinkel
gezählt –, eine nach der anderen zu öffnen, bis ich Şeküre fand. Weil ich jedoch das, was ich im
Herzen trug, falsch eingeschätzt und zur Unzeit offenbart hatte, war ich für
zwölf Jahre von meiner Geliebten getrennt gewesen. Ich hielt mich also still
zurück, während ich die von Şeküre berührten Gegenstände und die Kissen
betrachtete, auf denen sie wer weiß wie oft gesessen haben mußte, und hörte dem
Oheim zu.
Er sagte mir, der Sultan wünsche die
Fertigstellung des Buches bis zur Jahrtausendwende der Hedschra. Unser
Padischah, Schirmherr der Welt, wollte im tausendsten Jahr der Zeitrechnung
zeigen, daß er, ebenso wie die eigenen Methoden und die seines Staates, auch
die der Fremden zu benutzen wußte. Weil der Padischah außerdem ein Buch der
Feste anfertigen ließ und die Meisterbuchmaler aus diesem Grund sehr
beschäftigt waren, hatte er ihnen befohlen, daheim zu bleiben und dort zu
arbeiten, nicht im Gedränge der Werkstatt. Es war ihm natürlich bekannt, daß
sie heimlich den Oheim aufsuchten.
»Du wirst Meister Osman, den Ersten
Buchmaler, treffen«, sagte der Oheim. »Es heißt, er soll blind und etwas
kindisch geworden sein. Meiner Meinung nach ist er sowohl blind als auch
kindisch.«
Daß der Oheim mit Billigung und
Förderung des Padischahs die Anfertigung eines Buches überwachte, obwohl er
kein Meister der Buchmalerei und dies nicht sein eigentliches Handwerk war,
mußte selbstverständlich zu einer Entzweiung zwischen ihm und dem bejahrten
Ersten Illustrator, Meister Osman, führen.
Ich dachte zurück an die Kindertage
und wandte meine Aufmerksamkeit den häuslichen Gegenständen zu. Da war der
blaue Kelim aus Kula auf dem Boden, an den ich mich aus der Zeit vor zwölf Jahren
erinnerte, und die Kupferkanne, das Kaffeetablett, das kupferne Eimerchen und
die Kaffeetäßchen, die aus dem fernen China über Portugal hierhergekommen
waren, wie meine selige Tante so oft voller Stolz erwähnt hatte. Diese Dinge,
ebenso wie der Buchständer mit Perlmutterintarsien dort an der Seite, das
Gestell für den Turban an der Wand oder das rote Samtkissen, dessen Zartheit
mir jetzt wieder bewußt wurde, als ich es berührte, sie stammten alle aus dem
Haus in Aksaray, wo Şeküre und ich die Kindheit verbracht hatten, und
bewahrten noch immer etwas von dem Glanz unserer glücklichen Tage in jenem Haus
voller Bilder.
Glück und Bilder. Ich wünsche, daß
meine lieben Leser, die sich meiner Geschichte und meinem Kummer widmen, diese
beiden Dinge stets als jenen Grund betrachten, auf dem meine Lebenswelt beruht.
Einst war ich glücklich inmitten der Bücher, Stifte und Bilder hier. Dann
verliebte ich mich und wurde verbannt aus diesem Paradies. In den Jahren meines
Exils habe ich oft darüber nachgedacht, daß ich Şeküre und meiner Liebe zu ihr viel zu verdanken
hatte, weil sie mir in meiner Jugend Anlaß gaben, die Welt und das Leben
zuversichtlich zu betrachten. Da ich
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