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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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wir
an der unteren Hälfte niemals öffneten, drang ein kaltes, unheimliches Licht
herein.
    »Ich hatte einen Illuminator, der
wie die anderen heimlich zu mir kam und bis zum Morgen an dem geheimen Buch für
unseren Padischah mit mir arbeitete«, sagte ich. »Er machte die beste Goldverzierung.
Eines Nachts ist der arme Fein Efendi von hier fortgegangen und niemals zu
Hause angelangt. Ich fürchte, man hat ihn umgebracht, den Meistervergolder.«

6
  Ich, Orhan
    Man hat
ihn umgebracht?«
fragte Kara.
    Er war groß, schlank und ein wenig
zum Fürchten, dieser Kara. Ich kam gerade dazu, als Großvater sagte: »Man hat
ihn umgebracht«, dann entdeckte er mich: »Was machst du denn hier?«
    Dabei warf er mir einen solchen
Blick zu, daß ich ohne Zögern zu ihm ging und mich auf seinen Schoß setzte,
doch er ließ mich sofort wieder aufstehen.
    »Küß Kara
die Hand«, sagte er.
    Ich küßte
seine Hand. Sie duftete nicht.
    »Sehr lieb«, sagte Kara und küßte
mich auf die Wangen. »Er wird einmal groß und stark werden.«
    »Das ist Orhan, sechs Jahre alt.
Dann ist noch der Große da, Şevket,
sieben Jahre alt. Der ist sehr dickköpfig.«
    »Ich habe unsere alte Straße in
Aksaray besucht«, sagte Kara. »Es war kalt, alles voller Eis und Schnee, doch
nichts scheint anders geworden zu sein.«
    »Alles ist anders geworden, alles
verdorben«, sagte Großvater. »Sehr sogar!« Er wandte sich mir zu: »Wo ist
dein großer Bruder?«
    »Bei dem
Meister.«
    »Und warum
bist du hier?«
    »Der Meister hat mich gelobt und
gesagt, ich kann jetzt gehen.«
    »Bist du den ganzen Weg allein
gekommen?« fragte Großvater. »Dein Bruder hätte dich herbringen sollen.« Dann
erklärte er Kara: »Ich habe einen Freund, einen Buchbinder; die Kinder gehen
zweimal in der Woche nach der Koranschule als Helfer zu ihm. Er bringt ihnen
sein Handwerk bei.«
    »Liebst du
die Buchmalerei wie dein Großvater?« fragte Kara.
    Ich
schwieg.
    »Gut«, sagte Großvater, »nun mach
aber, daß du wegkommst.«
    Das Kohlenbecken verbreitete eine so
angenehme Wärme, daß ich nicht gehen wollte. Ich spürte den Geruch von Farbe
und Harz und hielt inne. Es roch auch nach Kaffee.
    »Auf andere Weise zu malen, heißt
das, auf andere Weise zu sehen?« fragte Großvater. »Deswegen haben sie meinen
armen Illuminator umgebracht. Dabei machte er Goldverzierungen der alten Art.
Ich weiß nicht einmal, ob er getötet wurde, weiß nur, daß er verschwunden ist.
Sie arbeiten unter der Aufsicht des Ersten Buchmalers, Meister Osman, an den
Bildern zu einem Buch der Feste für unseren Padischah. Jeder arbeitet
bei sich zu Hause, nur Meister Osman in der Werkstatt. Ich möchte, daß du dort
zuerst hingehst und dir alles anschaust. Ich fürchte, daß die übrigen unter
sich zerstritten sind, so daß einer den anderen umgebracht haben könnte. Ihre
Beinamen, die sie vor langer Zeit von Meister Osman erhielten, lauten
Schmetterling, Olive und Storch. Such sie bei sich zu Hause auf.«
    Ich wollte zur Treppe, ging
rückwärts dorthin. Aus dem Zimmer mit den Wandschränken, in dem Hayriye nachts
schläft, kam ein Rascheln, so ging ich hinein. Es war nicht Hayriye, die ich
dort fand, sondern meine Mutter. Sie schämte sich, als sie mich sah. Ihr Körper
steckte zur Hälfte im Schrank.
    »Wo warst du?« fragte sie.
    Doch sie wußte, wo ich gewesen war.
Es gibt ein Loch im Schrank, von dort kann man in Großvaters Werkstube und,
wenn die Tür offen ist, in den Gang und auf der anderen Seite des Ganges in
Großvaters Schlafzimmer hineinschauen, natürlich nur, wenn auch dessen Tür
offensteht.
    »Ich war
bei Großvater«, sagte ich. »Was tust du hier, Mutter?«
    »Hab ich dir nicht gesagt, es gibt
einen Gast, und man geht dort nicht hinein?« beschimpfte sie mich, doch nicht
mit allzu lauter Stimme, denn sie wollte nicht, daß der Gast es hörte. Dann
fragte sie in freundlicherem Ton: »Was haben sie gemacht?«
    »Sie haben beisammengesessen. Aber
nicht wegen der Farben. Großvater hat gesprochen, der andere hat zugehört.«
    »Wie hat er dagesessen?«
    Ich setzte mich rasch auf den Boden
und ahmte den Gast nach: Schau, Mutter, ich bin jetzt ein sehr ernster Mann,
höre mit zusammengezogenen Augenbrauen auf das, was Großvater sagt, und wie
dieser Gast wiege ich den Kopf würdevoll im Rhythmus, als lauschte ich einem
frommen Gesang.
    »Geh nach unten«, sagte Mutter, »und
hol mir Hayriye. Sofort.«
    Sie setzte sich, nahm eine hölzerne
Schreibunterlage auf ihren Schoß und begann,

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