Pamuk, Orhan
ein kleines Stück Papier zu
beschreiben.
»Was schreibst du, Mutter?«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst
sofort nach unten gehen und Hayriye holen!«
Ich ging in die Küche. Mein Bruder
war gekommen. Hayriye hatte eine Schale von dem Pilaw für den Gast vor ihn
hingestellt.
»Gemeiner Kerl«, sagte mein Bruder,
»verschwindet und läßt mich allein mit dem Meister. Ich habe die ganze
Faltarbeit gemacht. Meine Finger sind grün und blau!«
»Hayriye,
Mutter ruft dich.«
»Ich werde dich verprügeln, wenn ich
mit dem Essen fertig bin«, sagte mein Bruder. »Du wirst die Strafe bekommen für
deine Faulheit und Hinterhältigkeit!«
Als Hayriye hinausging, stand mein
Bruder auf und ging auf mich los, obwohl er seinen Pilaw noch nicht aufgegessen
hatte. Ich lief nicht davon. Er erwischte mich am Handgelenk und verdrehte es.
»Laß das, Şevket,
du tust mir weh!«
»Wirst du noch einmal die Arbeit auf
mich abwälzen und weglaufen?«
»Nein, ich
werde nicht weglaufen.«
»Schwöre
es!«
»Ich
schwöre!«
»Schwöre
beim Koran!«
»Ich schwöre
beim Koran!«
Doch er ließ mich nicht los. Er zog
mich an das Eßtablett und drückte mich nieder. Mit der einen Hand löffelte er
seinen Pilaw, mit der anderen verdrehte er mir den Arm noch mehr – er ist ja
weitaus stärker als ich.
»Du quälst wieder deinen Bruder, du
grausamer Kerl«, sagte Hayriye. Sie war in einen Umhang gehüllt und wollte aus
dem Haus gehen. »Laß ihn zufrieden!«
»Misch dich
nicht ein, Sklavenmädchen«, erwiderte mein Bruder. Noch immer verbog er mir den
Arm. »Wo gehst du hin?«
»Ich hole
Zitronen«, sagte Hayriye.
»Lügnerin!
Der Schrank ist voller Zitronen!« rief mein Bruder.
Da sich sein Griff etwas lockerte,
riß ich mich plötzlich los, trat nach ihm und ergriff den Leuchter beim Fuß,
doch Şevket packte mich und drückte mich erneut zu Boden. Er stieß an den
Leuchter, und das Eßtablett fiel um.
»Allah strafe euch!« sagte meine
Mutter. Sie sprach leise, damit es der Gast nicht hörte. Wie nur war sie, von
Kara ungesehen, über den Gang die Treppe hinuntergelangt? Sie trennte uns. »Man
muß sich für euch schämen, ihr Lümmel!«
»Orhan hat heute gelogen«, erklärte Şevket.
»Er hat mich beim Meister mit der ganzen Arbeit sitzenlassen und ist
weggelaufen.«
»Schweig!« rief Mutter und verpaßte
ihm eine Ohrfeige.
Sie hatte nur leicht zugeschlagen,
und mein Bruder weinte nicht. Er sagte: »Ich will meinen Vater. Wenn Vater
zurückkommt, wird er Onkel Hasans rotes Schwert ziehen, und wir werden aus
diesem Haus zu Onkel Hasan zurückkehren.«
»Schweig!« rief Mutter. Auf einmal
war sie so wütend geworden, daß sie Şevkets Arm packte und ihn über die
Steinfliesen bis zum dunklen Ende der Eingangshalle schleifte. Ich folgte
ihnen. Mutter öffnete die Tür und sagte, als sie mich sah: »Rein mit euch
beiden!«
»Aber Mutter, ich habe doch nichts
getan«, rief ich, ging aber trotzdem hinein. Mutter schloß die Tür hinter uns.
Es war nicht ganz finster hier drinnen. Durch die Schlitze der Läden, vor denen
der Granatapfelbaum stand, drang ein schwaches Licht herein, doch ich hatte
Angst.
»Mach die Tür auf, Mutter, ich
friere!« bat ich.
»Heul nicht, du Feigling, sie wird
gleich aufmachen!« sagte Şevket.
Mutter öffnete die Tür. »Werdet ihr
jetzt artig sein, bis der Gast gegangen ist?« fragte sie. »Gut, dann setzt euch
neben den Herd in der Küche, bis Kara fort ist, und kommt nicht nach oben!«
»Dort ist es langweilig«, sagte Şevket.
»Wo ist Hayriye hingegangen?«
»Du mußt dich überall einmischen«,
meinte Mutter, »das wird mir zuviel!«
Wir hörten das leise Wiehern eines
Pferdes vom Stall her. Und noch einmal. Das war nicht Großvaters Pferd, es war
das Pferd Karas. Etwas wie Freude regte sich in uns, als beginne ein
Jahrmarktstag oder ein Festmorgen. Meine Mutter lächelte, als wolle sie auch uns
zum Lächeln bringen. Mit zwei Schritten war sie an der Tür, die von hier zum
Stall führte, und öffnete sie.
»Brrrrr!« rief sie hinein.
Sie wandte sich um, führte uns in
Hayriyes rattenverseuchte Küche voller Fettgeruch und ließ uns sitzen: »Wehe,
wenn ihr euch hier rauswagt, ehe der Gast gegangen ist! Und zankt euch nicht,
damit niemand denkt, ihr wärt verwöhnte, ungezogene Kinder!«
»Mutter«, sagte ich, bevor sie die
Tür schloß, »Mutter, ich muß dir etwas sagen. Sie haben Großvaters armen
Vergolder umgebracht.«
7
Mein Name ist Kara
Beim ersten Blick auf ihren
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