Pamuk, Orhan
Fäßchen eingetaucht und gerade das
richtige Maß an Tinte aufgenommen. Nur zu, meine Hand! Nun mach es wahr, dieses
wunderbare Pferd, das ich vor Augen habe! Das Pferd und ich schienen eins
geworden zu sein, und wir waren dabei, unseren Platz in dieser Welt einzunehmen.
Einer Eingebung folgend suchte ich
diesen Platz auf dem eingerahmten Blatt Papier. Dort setzte ich das Pferd
meiner Phantasie ein, und ganz plötzlich geschah es:
Noch bevor ich denken konnte, hatte
sich meine Hand entschlossen vorwärts bewegt und – sieh einmal, wie schön! – beim Huf des Pferdes angefangen und war sofort mit einem Kringel über die hübsche,
zierliche Fessel hochgeglitten. Als sie ebenso entschlossen das Knie umringelte
und rasch weiter oben unter dem Brustkasten anlangte, war ich entzückt! Und
nun von hier aus umgebogen und siegreich in die Höhe: Wie schön die Brust
geworden war! Zum Ende hin schmaler werdend, entstand der Hals, genau wie bei
dem Pferd, das ich vor Augen hatte. Ohne den Pinsel abzusetzen, gelangte ich
über die Wange zu dem kräftigen Maul, das ich nach kurzem Bedenken offen ließ,
in das ich eindrang – hier, öffne dein Maul weiter, Pferd – und aus dem ich die
schöne Zunge hervorholte. Langsam bog ich – zögere nicht! – um die Nase herum.
Während ich mit dem Pinsel nach oben fuhr, betrachtete ich kurz das Ganze, und
als ich sah, daß alle Linien meiner Phantasie entsprachen, vergaß ich, was ich
darstellte, und die Ohren und die wundervolle Wölbung des schönen Halses
schien nicht ich, sondern allein meine Hand gezeichnet zu haben. Als ich rasch
aus dem Gedächtnis seinen Rücken zeichnete, hielt meine Hand von selbst inne
und ließ den Pinsel neue Tinte aus dem Fäßchen saugen. Ich war sehr zufrieden,
war ganz von dem Bild erfüllt, während ich die Kruppe und die kräftigen, hochstehenden
Hinterbacken malte. Plötzlich schien ich neben dem Pferd zu stehen, das ich
darstellte, vergnügt machte ich mich an den Schweif, dies war ein Kriegspferd,
ein schnelles Pferd, ich machte einen Knoten in den Schwanz und zog den Pinsel
fröhlich hoch: Ich malte den Steiß, den Hintern und schien dabei an meinen
Hintern und dem Loch eine frische Kühle zu spüren. Und mit diesem Lustempfinden
vollendete ich rasch die hübsche weiche Kruppe und den Huf des leicht
angehobenen linken Hinterfußes. Ich bewunderte meine Hand, die dem rechten
Vorderbein genau die edle Position meiner Vorstellung verliehen hatte, und
bewunderte das Pferd, das ich gezeichnet hatte.
Ich hob die Hand, zeichnete sein
feuriges, doch melancholisches Auge, seine Nüstern zögernd und seine
Satteldecke sehr rasch; ich zog die Strähnen seiner Mähne, als würde ich sie
liebevoll streicheln, gab ihm Steigbügel, setzte eine Blesse auf seine Stirn
und versah es beflissen mit Hoden und Penis, angemessen, doch in voller Größe,
damit alles seine Richtigkeit habe.
Wenn ich ein wunderbares Pferd
zeichne, dann werde ich jenes wunderbare Pferd.
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Man nennt mich Schmetterling
Ich glaube, es war zur Stunde des Abendgebets.
Jemand war an der Tür und erklärte, unser Padischah habe einen Wettstreit
angeordnet. Wie Du befiehlst, mein werter Sultan! Wer könnte ein schöneres
Pferdebild zeichnen als ich!
Dennoch zögerte ich ein wenig, als
ich hörte, das Bild sei ohne Farbauftrag und nur mit schwarzer Tinte
auszuführen. Warum keine Farbe, bin ich es nicht, der in den schönsten Farben
malt? Wer entscheidet, welches der Bilder das beste ist? Ich versuchte, den
hübschen Jungen aus dem Saray mit den breiten Schultern und den rosigen Lippen
auszuhorchen, und ahnte, daß der Erste Illustrator Altmeister Osman hinter der
Sache steckte. Meister Osman kennt ohne Zweifel mein Talent und liebt mich von
allen Illustratoren am meisten.
So begannen, während ich auf die
leere Seite schaute, die Haltung, das Aussehen und die Stimmung des Pferdes,
das beiden gefallen sollte, vor meinen Augen lebendig zu werden. Dieses Tier
mußte lebhaft, aber würdevoll sein, wie die Pferde, die Meister Osman vor zehn
Jahren darstellte, und es sollte sich aufbäumen, wie es unser Padischah mochte,
damit sich beide, was die Schönheit betraf, einig werden konnten. Wie viele
Goldstücke betrug wohl die Belohnung? Wie hätte Mir Musavvir dieses Bild
gemalt? Und wie Behzat?
Plötzlich kam mir etwas in den Sinn,
so rasch, daß meine verfluchte Hand, bevor mir klar wurde, was es war, den
Pinsel schon ergriffen und mit dem erhobenen linken Vorderfuß des
wundervollsten
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