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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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den Schwiegervater hin und sagte: »Das ganze Viertel, auch der hier zuständige
Kadi, jeder also weiß, daß Şeküre längst geschieden und nach den Geboten
des Korans wieder verheiratet wurde. Auch wenn dein schon vor langer Zeit
verstorbener Sohn auferstehen und sogar in Begleitung des heiligen Moses aus
dem Paradies zurückkommen sollte, wäre es sinnlos, denn er ist von Şeküre
geschieden. Ihr habt eine verheiratete Frau entführt und haltet sie' hier fest.
Kara läßt euch sagen, daß er euch die Strafe dafür noch vor dem Kadi mit seinen
Männern erteilen wird.«
    »Er macht einen Fehler«, meinte der
Schwiegervater höflich. »Wir haben Şeküre doch nicht entführt! Ich bin,
Allah sei Dank, der Großvater dieser Kinder, und Hasan ist ihr Onkel. Şeküre
hat bei uns Zuflucht gesucht, weil sie ganz allein geblieben war. Wenn sie
will, kann sie sofort gemeinsam mit ihren Kindern zurückgehen. Vergiß aber
nicht, daß dieses hier ihr Heim ist, in dem sie ihre Kinder gebar und in glücklichen
Tagen aufgezogen hat.«
    »Şeküre«, fragte ich ohne zu
überlegen, »möchtest du in das Haus deines Vaters zurückkehren?«
    Bei der Erwähnung der »glücklichen
Tage« hatte sie zu weinen begonnen.
    »Ich habe keinen Vater«, sagte sie.
Oder meinte ich nur, das gehört zu haben? Zuerst hängten sich die Kinder an
ihre Rockschöße, drängten sie dann zum Sitzen und schmiegten sich an ihre
Brust. Sie umarmten sich, wurden ein Ball und weinten alle zusammen. Aber
Ester ist ja nicht dumm! Daß Şeküre beide Seiten beschwichtigen wollte,
ohne sich entscheiden zu müssen, verstand ich sehr gut, aber auch, daß ihre
Tränen trotzdem von Herzen kamen. Denn auch ich hatte angefangen zu weinen.
Kurz darauf sah ich, wie auch der Schlange Hayriye die Tränen über die Wangen liefen.
    Was den vornehmen Schwiegervater mit
den grünen Augen anbetraf, die einzige Person in diesem Haus, die nicht
weinte, so schienen sich Kara und seine Männer dafür rächen zu wollen, die
gerade in diesem Augenblick ihren Angriff begannen. Sie schlugen an die
Fensterläden und rüttelten an der Tür. Zwei Leute wuchteten eine Art von
Rammbock an die Tür, und jeder Schlag hallte im Haus wie ein Kanonenschuß
wider.
    »Du bist ein erfahrener, vornehmer
Mann«, sprach ich, Mut aus meinen Tränen schöpfend, den Schwiegervater an.
»Öffne die Tür und sag ihnen, Şeküre sei auf dem Weg, damit die
tollwütigen Hunde da draußen aufhören.«
    »Würdest du eine einsame Frau, die
in deinem Haus Zuflucht suchte und außerdem deine Schwiegertochter ist, vor die
Tür setzen und diesen Hunden ausliefern?«
    »Sie will selbst gehen«, sagte ich
und putzte mir meine vom Weinen verstopfte Nase mit dem purpurnen Taschentuch.
    »Dann kann sie die Tür öffnen und
hinausgehen«, meinte er.
    Ich setzte mich zu Şeküre und
den Kindern. Jeder neue Schlag gegen die Tür wurde durch den schrecklichen Lärm
zum Anlaß für noch mehr Tränen. Die Kinder jammerten heftiger, was sowohl Şeküres
als auch meinen Tränenstrom verstärkte. Auch wenn wir das drohende Geschrei von
draußen und die wuchtigen Schläge ernst nahmen, die das Haus einzureißen
schienen, wußten wir doch beide, daß wir weinten, um Zeit zu gewinnen.
    »Meine schöne Şeküre«, sagte
ich, »dein Schwiegervater hat dir Erlaubnis erteilt und Kara, dein Ehemann,
alle deine Bedingungen angenommen, er wartet voll Liebe auf dich, in diesem
Haus hast du nichts mehr verloren. Zieh dein Straßenkleid über, lege deinen
Schleier an, nimm dein Bündel und deine Kinder an die Hand und öffne die Tür,
damit wir uns endlich auf den Weg nach Hause machen können.«
    Meine Worte beschleunigten den
Tränenstrom der Kinder. Und Şeküre machte die Augen weit auf.
    »Ich fürchte mich vor Hasan«,
erklärte sie. »Seine Rache wird schrecklich sein. Er ist wild. Schließlich bin
ich von selbst hierhergekommen.«
    »Das macht deine neue Ehe nicht
ungültig«, gab ich zu bedenken. »Du bist verzweifelt gewesen und hast
selbstverständlich irgendwo Zuflucht gesucht. Dein Ehemann hat bereits
vergeben, was geschehen ist, er erwartet dich zurück. Was Hasan angeht, so
werden wir schon mit ihm fertig werden, wie wir es jahrelang getan haben.« Ich
lächelte ihr zu.
    »Aber die Tür öffne ich nicht«,
sagte sie. »Weil ich dann freiwillig zu ihm zurückgehe.«
    »Meine liebe Şeküre, auch ich
kann die Tür nicht öffnen«, erklärte ich. »Denn wie du weißt, stecke ich damit
meine Nase in eure Angelegenheiten. Und

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