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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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wird sein, wenn ich dich jetzt
blende, du Schurke, der du die Buchmalerwerkstatt, das Lebenswerk Meister
Osmans, ins Verderben reißt?«
    »Ob du mich blendest oder nicht, am
Ende werden wir für uns hier keinen Platz mehr finden können«, sagte ich.
»Selbst wenn Meister Osman wirklich blind wird oder gar stirbt und wir unter
dem Einfluß der fränkischen Meister mit all unseren Mängeln und unserer
Persönlichkeit malen, wie's uns aus dem Herzen kommt, und einen Stil erwerben,
werden wir uns selbst ähnlich, aber nie wir selbst sein können. Und wenn wir
sagen, nein, laßt uns wie die alten Meister illustrieren, weil wir nur dann wir
selbst sind, wenn wir wie sie malen, dann wird unser Padischah, der selbst
Meister Osman den Rücken gekehrt hat, an unserer Stelle andere finden. Niemand
mehr wird uns anschauen, man wird uns nur bemitleiden. Und der Überfall auf das
Kaffeehaus wird nur Salz in offene Wunden streuen, weil man natürlich dieses
Ereignis zur Hälfte uns, den Illustratoren, zur Last legen wird, die wir dem
Prediger Efendi die Zunge herausgestreckt haben.«
    Wie sehr ich auch versuchte, ihnen
klarzumachen, daß es unserer Sache keineswegs nützen würde, wenn wir uns
zerstritten, so wenig Erfolg hatte ich damit. Sie wollten mir einfach nicht
zuhören, denn sie waren in Panik und meinten, wenn sie imstande seien, bis zum
Morgen ganz schnell einen Schuldigen – sei es den richtigen, sei es den
falschen – unter sich auszumachen, dann würden sie sich retten können, würden
nicht gefoltert werden und in der Buchmalerwerkstatt würde noch viele Jahre
lang alles so weitergehen wie bisher.
    Dennoch gefiel den beiden anderen
nicht, was Kara mir androhte. Falls sich nun ein anderer als der Schuldige
herausstellte und dem Padischah zu Ohren kommen sollte, daß sie mich grundlos
geblendet hatten? Auch die große Nähe Karas zu Meister Osman und seine
hochmütige Art, von ihm zu sprechen, machten ihnen angst. So versuchten sie,
die Nadel zurückzuziehen, die Kara blind vor Zorn ständig vor meine Augen
hielt.
    Kara geriet in Panik, wohl weil er
meinte, sie wollten ihm die Federbuschnadel entreißen und wir hätten uns
untereinander verständigt. Wieder kam es zu einem Handgemenge. Um dem Nadelgefecht
auszuweichen, das sich direkt vor meinen Augen abspielte, konnte ich nur mein
Kinn anheben und den Kopf zurückwerfen.
    Danach ging alles so schnell, daß
ich im ersten Augenblick nicht begriff, was geschah: Ich spürte einen scharfen,
aber örtlich begrenzten Schmerz in meinem rechten Auge, und meine Stirn wurde
vorübergehend taub. Dann war alles wie zuvor, doch mich erfüllte bereits ein
tiefes Entsetzen. Die Lampe war nun weiter weg, doch ich konnte den anderen
klar erkennen, der nunmehr ganz entschlossen die Nadel in mein linkes Auge
stach. Er hatte Kara soeben die Nadel aus der Hand genommen und handelte jetzt
umsichtiger und genauer. Ich rührte mich nicht, als mir klar wurde, daß die Nadel
glatt eingedrungen war, und spürte das gleiche Brennen wie zuvor. Die Betäubung
meiner Stirn schien meinen ganzen Kopf zu erfassen, verschwand aber, als die
Nadel herauskam. Nun betrachteten sie einmal meine Augen und einmal die Spitze
der Nadel. Sie schienen sich nicht sicher zu sein, was geschehen war. Als jedem
das Furchtbare, das man mir angetan hatte, so recht bewußt wurde, hörte das
Gerangel auf, und das Gewicht auf meinen Armen ließ nach.
    Ich begann heulend zu schreien.
Nicht vor Schmerz, sondern in dem entsetzlichen Bewußtsein dessen, was mir
geschehen war.
    Wie lange ich schrie, weiß ich
nicht. Zunächst merkte ich, daß meine Schreie nicht nur mich, sondern auch sie
erleichterten. Meine Stimme brachte uns einander näher.
    Doch als mein Schreien anhielt, sah
ich, daß sie unruhig wurden. Noch fühlte ich keinen Schmerz, doch es ging mir
nicht aus dem Sinn, wie jene Nadel in meine beiden Augen gestochen worden war.
    Ich war aber noch nicht blind
geworden. Noch immer konnte ich sehen, Allah sei Dank, wie sie mich entsetzt
und traurig beobachteten, konnte ihre unentschlossen an der Decke des Konvents
entlanghuschenden Schatten erkennen. Das freute mich, versetzte mich aber auch
in Panik. »Laßt mich los«, schrie ich, »laßt mich, damit ich noch einmal alles
sehen kann, bitte!«
    »Erzähl sofort, wie du an jenem
Abend Fein Efendi begegnet bist«, forderte Kara. »Dann lassen wir dich frei.«
    »Ich war auf dem Heimweg vom
Kaffeehaus, als mich der arme Fein Efendi aufhielt. Er war sehr erregt und

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