Pamuk, Orhan
ständig benutzte, daß sie zu einem Körperteil der Lehrlinge wurden, und die
man schließlich doch beiseite warf, und die langen, beim »Schwerterspiel« der
Lehrlinge abgestumpften Papierscheren und die Schreibtafeln der großen
Meister mit dem Namenszug ihres Besitzers, damit sie nicht verwechselt wurden,
wo war der feine Duft der chinesischen Tusche und das ferne, in der Stille
hörbare Klimpern der Kaffeetöpfchen, wo war unsere Tigerkatze mit ihren Jungen,
deren feine Härchen aus den Ohrmuscheln und vom Nacken uns jeden Sommer zur
Anfertigung unserer verschiedenen Pinsel dienten, wo die vielen Schichten
indischen Papiers, die man uns reichlich überließ, damit wir in müßigen
Augenblicken unsere Kunst wie die Kalligraphen üben konnte, und wo war das abschreckende
Anspitzmesser mit dem Stahlgriff, das nur mit Erlaubnis des Ersten Illustrators
als warnendes Beispiel vor der ganzen Buchmalerwerkstatt zum Wegschaben großer
Fehler benutzt wurde, und wo waren inzwischen die Rituale, die solche Fehler
umgaben?
Wir sprachen auch davon, daß es ein
Fehler war, die Meisterillustratoren unseres Padischahs zu Hause arbeiten zu
lassen. Und wir dachten an die köstliche warme Halwa zurück, die an den frühen
Winterabenden aus der Küche des Sarays kam, wenn wir mit schmerzenden Augen bei
Lampen- und Kerzenlicht gearbeitet hatten. Lächelnd und mit Tränen in den
Augen erinnerten wir uns an den alten, senilen Vergoldermeister mit den ständig
zitternden Händen, die kein Papier und keinen Stift mehr halten konnten, der
einmal im Monat die Werkstatt besuchte und süße Teigbällchen mitbrachte, die
seine Tochter für uns Lehrlinge in Fett gebacken hatte. Wir sprachen über die
wundervollen Seiten von der Hand des großen Meisters Kara Memi, des Ersten
Illustrators vor Meister Osman, die man nach seiner Beerdigung beim Aufräumen
seines tagelang leerstehenden Zimmers in einer Mappe unter der Matratze fand,
auf der sich der Verblichene über Mittag ausgeruht hatte.
Dann kamen wir auf unsere eigenen
Bilder zu sprechen, auf die wir stolz waren und die wir hin und wieder gleich
Kara Memi hervorholen und betrachten würden, falls wir Kopien davon hätten,
und zählten sie auf. Sie sprachen über eine Abbildung des Sarays für das Buch
der Künste, auf der der Himmel im oberen Teil mit Goldwasser bemalt wurde
und durch die Farbe zwischen den Kuppeln, Türmen und Zypressen ein Anblick
entstand, der an das Ende der Welt gemahnte; doch nicht das Gold selbst schuf
diesen Eindruck, sondern nur seine Farbe, wie es sich für ein nobles Bild
gehört.
Sie sprachen auch über eine
Darstellung von der Himmelfahrt unseres heiligen Propheten, der verwirrt
bemerkte, daß er kitzlig war, als ihn zwei Engel unter den Armen ergriffen und
von der Spitze des Minaretts gen Himmel führten, was aber in so ernsthaften Farben
gemalt wurde, daß selbst kleine Kinder beim Anblick dieser gesegneten Szene
zuerst in frommer Ehrfurcht erschauerten und dann respektvoll lachten, weil sie
meinten, selbst gekitzelt zu werden.
Ich sprach über ein Blatt, auf dem
ich die Niederwerfung der in die Berge geflüchteten Aufständischen schon durch
unseren vormaligen Großwesir Pascha illustriert und all die von seiner Hand
abgeschlagenen Köpfe fein säuberlich aufgereiht und ihre Hälse blutrot
gerändert hatte. Sie waren nicht gleichmäßig dargestellt wie gewöhnliche Köpfe
von Leichen, sondern ich hatte bei jedem einzelnen, wie es ein fränkischer
Bildnismaler tun würde, auf geschmackvolle Weise die im Tode gerunzelten
Brauen, die verbitterten, nach dem Sinn des Lebens fragenden Lippen, die verzweifelt
ein letztes Mal nach Atem ringenden Nasen und sie sich vor dem Dasein verschließenden
Augen wie jeweils zu einem anderen Gesicht gehörend gemalt, so daß die Köpfe
einen geheimnisvollen Hauch von Schrecken über das Bild verbreiten.
Auf diese Art riefen wir uns die
Szenen von Liebe und Krieg ins Gedächtnis zurück, die wir am meisten mochten,
die herrlichsten Wunder und die Feinheiten, die uns Tränen entlockten, und sprachen
wehmütig über sie wie über unsere eigenen unvergeßlichen, unerreichbaren
Erinnerungen. Vor unseren Augen zogen geheimnisvolle Gärten vorbei, wo sich
Liebende in Sternennächten trafen, Frühlingsbäume, Sagenvögel, Stillstand der
Zeit ... Wir stellten uns blutige Kriege vor, entsetzlich und nahe wie unsere
eigenen Alpträume, in zwei Teile zerhauene Krieger, Pferde in blutiger Panzerung,
schöne Menschen aus alter Zeit, die
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