Pamuk, Orhan
einander erdolchten, Frauen mit kleinen
Mündern, kleinen Händen und Schlitzaugen, die mit gebeugtem Nacken durch den
Fensterspalt das Geschehen verfolgten ... Wir erinnerten uns an schöne, stolze
und selbstgefällige Knaben, an stattliche Schahs und Chane und ihre längst
dahingegangenen Reiche und Paläste. Und wie den Frauen, die im Harem dieser
Schahs miteinander weinten, so war auch uns jetzt unser Übergang vom Leben in
die Erinnerung bewußt, doch würden wir gleich ihnen von der Geschichte in die
Legende übergehen? Damit uns der Schatten der Angst vor dem Vergessenwerden
nicht erreichte, die schrecklicher war als die Angst vor dem Tod, fragten wir
einander nach den Todesszenen, die uns am besten gefielen.
Als erstes wurde Dehhaks Mord an
seinem Vater erwähnt, zu dem ihn Satan angestiftet hatte. Weil in der Zeit
jener Legende, die das Buch der Könige zu Anfang erzählt, die Welt
gerade neu erschaffen worden und deshalb alles noch sehr einfach war, bedurfte
nichts einer Erklärung. Wollte man Milch, so molk man eine Ziege und trank, man
sagte ›Pferd‹, bestieg eins und ritt davon; man sagte ›das Böse‹,
und der Satan kam und überzeugte einen von der Schönheit des Mordes an dem
eigenen Vater. Dehhaks Mord an Merdas, seinem Vater, der aus arabischem
Geschlecht stammte, war schön, weil es keinen Anlaß dafür gab, und ebenso, weil
der Mord um Mitternacht in einem herrlichen Palastgarten geschah, während
goldene Sterne Zypressen und bunte Frühlingsblumen in ein ungewisses Licht
tauchten.
Dann erinnerten wir uns des
legendären Rüstems, der nach dreitägigem Ringen mit dem feindlichen Heer dessen
Anführer Suhrab tötete, ohne zu wissen, daß jener sein eigener Sohn war. Als Rüstem
an dem Armreif, den er vor Jahren Suhrabs Mutter schenkte, seinen eigenen Sohn
erkennt, dem er mit dem Schwert die Brust zertrümmert hat, schlägt er sich
bitter weinend vor den Kopf, und darin lag für uns alle etwas tief Bewegendes.
Was war das Bewegende?
Während der Regen immer noch
melancholisch auf das Dach des Konvents tropfte, ging ich auf und ab und
brachte auf einmal hervor: »Entweder wird uns unser Vater und Meister Osman
verraten und umbringen lassen; oder wir lassen ihn durch Verrat umbringen!«
Nicht weil meine Worte falsch waren,
waren wir alle starr vor Entsetzen und schwiegen, sondern weil sie zutrafen. In
dem eifrigen Bestreben, den alten Zustand wiederherzustellen, sagte ich im
Hin- und Hergehen zu mir selbst: Ich sollte den Mord Efrasiyabs an Siyavuş schildern, um das Thema zu
wechseln. Doch das ist ein Verrat, der mir keine Furcht einflößt. Dann erzähle
den Mord an Hüsrev. Nun gut, aber wie ihn Firdevsi im Buch der Könige erzählt
oder aber wie Nizami ihn in seinem Hüsrev und Şirin schildert? Das
Traurige an der Beschreibung im Buch der Könige ist, daß Hüsrev unter
Tränen den Mörder erkennt, der in sein Zimmer eindringt! Als letzten Ausweg
sagt Hüsrev: »Ich will ein Gebet verrichten« und schickt seinen Pagen nach
Wasser, Seife, sauberen Kleidern und seinem Gebetsteppich; doch der naive Junge
begreift nicht, daß sein Herr ihn fortschickt, damit er Hilfe holt, und geht
hinaus, um tatsächlich nur das Gewünschte zu bringen. Sowie der Mörder mit
Hüsrev im Zimmer allein ist, verschließt er als erstes die Tür von innen.
Firdevsi beschreibt den Mörder, den die Verschwörer für diese Tat gedungen
haben, in dieser Szene gegen Ende des Buchs der Könige voll Abscheu als
stinkend, behaart und fettbäuchig.
In meinem Kopf schwirrten die Worte,
während ich auf und ab ging, doch ich bekam, wie im Traum, keinen Ton heraus.
Gerade da spürte ich, wie im Traum,
daß die anderen untereinander flüsterten und sich feindselig über mich
äußerten.
Auf einmal fielen sie alle drei über
mich her. Sie rissen mir bei diesem Angriff so rasch die Beine weg, daß wir
gemeinsam zu viert auf dem Boden herumrollten. Es gab ein kurzes Gerangel. Ich
blieb auf dem Rücken liegen, und sie waren über mir.
Einer setzte sich auf meine Knie,
ein anderer auf meinen rechten Arm.
Kara hatte seine Knie auf meine
Schultern gedrückt und sich mit seinem vollen Gewicht zwischen meinem Brustkorb
und meinem Magen auf mir niedergelassen. Ich konnte mich nicht rühren in dieser
Lage. Wir waren alle verblüfft und atmeten schwer. Und ich erinnerte mich an
folgendes:
Mein seliger Onkel hatte einen
widerlichen Sohn, zwei Jahre älter als ich – hoffentlich hat man ihn beim
Überfall auf eine Karawane gefangen
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