Pamuk, Orhan
und den
Schmeichlern in seiner Umgebung mitteilte, kam auch dem Altmeister Scheich Ali
zu Ohren, doch der ließ das Buch nicht halbfertig zurück, wie andere, gewöhnliche
Illustratoren es getan hätten, und blieb in Täbris. Ebensowenig verfiel er auf
Auswege, um die Blendung hinauszuzögern, wie zum Beispiel langsamer zu
arbeiten oder schlechter zu malen, damit das Buch fehlerhaft sei. Nein, er
arbeitete mit noch stärkerem Eifer und Glauben weiter. Gleich nach dem
Morgengebet begann er in dem allein von ihm bewohnten Haus zu arbeiten und
stellte immer die gleichen Pferde, Zypressen, Verliebten, Drachen und
stattlichen Prinzen dar, bis ihm um Mitternacht bei Kerzenlicht die bitteren
Tränen aus den müden Augen rannen. Tagelang betrachtete er eines der Blätter,
die zum größten Teil von den großen alten Meistern aus Herat stammten, und
übertrug das Bild, wie es war, auf ein Blatt Papier, ohne darauf zu schauen.
Schließlich war das Buch für den Schah Cihan vom Schwarzen Hammel beendet, und
wie erwartet wurde der große Meisterillustrator zuerst gelobt und mit Gold
überschüttet und dann mit einer Federbuschnadel geblendet. Noch ehe der Schmerz
sich gelegt hatte, verließ Scheich Ali Täbris, begab sich zu dem Herrscher
Hasan dem Langen vom Weißen Hammel und erklärte: »Ja, ich bin blind. Doch die
ganze Schönheit des Buches, das ich in den letzten elf Jahren geschmückt habe,
ist mit jeder einzelnen Linie des Stiftes, mit jedem einzelnen Pinselstrich in
meiner Erinnerung bewahrt, und meine Hand weiß sie aus dem Gedächtnis zu
zeichnen, ohne daß ich sehe. Ich kann für dich, mein Herrscher, das schönste
Buch aller Zeiten illustrieren. Alle Herrlichkeiten Allahs kann ich gänzlich
unverfälscht aus dem Kopf zeichnen, weil meine Augen nicht mehr vom Schmutz
dieser Welt abgelenkt werden.« Hasan der Lange glaubte dem alten großen
Illustrator sofort, der Meister hielt sein Wort und schuf für den Herrscher vom
Weißen Hammel das schönste Buch aller Zeiten. Jeder weiß, daß hinter dem
späteren Überfall, dem Sieg und der Ermordung des Schah Cihan vom Schwarzen
Hammel bei Bingöl durch Hasan den Langen vom Weißen Hammel die geistige Kraft
stand, die der Sieger aus dem neuen Buch schöpfte. Und als der siegreiche Hasan
der Lange in dem Krieg von Otlukbeli von dem seligen Sultan Mehmet dem Eroberer
besiegt wurde, ging dieses wunderbare Buch zusammen mit jenem, das der
Altmeister Scheich Ali von Täbris zuvor für den seligen Schah Cihan gefertigt
hatte, unter die Schätze unseres Padischahs ein. Die es sahen, wissen es.
BE
Da der hochselige Sultan Süleyman der Prächtige den
Kalligraphen einen größeren Wert zumaß, erzählten sich die unglücklichen Illustratoren
jener Zeit die Geschichte, von der jetzt die Rede sein wird, als Beispiel für
die größere Bedeutung der Illustration gegenüber der Kalligraphie, doch jeder
aufmerksame Zuhörer wird merken, daß sie eine lehrreiche Fabel von der
Blindheit und dem Gedächtnis ist. Das erste, was die nach dem Tode des Weltbeherrschers
Timur zerstrittenen und einander erbarmungslos bekämpfenden Söhne und Enkel in
den eroberten Städten veranlaßten, war das Prägen von Münzen und das
Freitagsgebet in der Moschee, beides auf und im eigenen Namen. Als zweites
wurden die Bücher, die einer dem anderen abgenommen hatte, auseinandergerissen,
an den Anfang eine den neuen Besitzer als »Weltbeherrscher« rühmende Widmung
und ein neuer Kolophon gesetzt, damit der Betrachter der dann neu eingebundenen
Bücher dieses Herrschers glauben sollte, jener sei der Herr der Welt. Als
Abdüllatif, der Enkel Timurs und Sohn des Uluğ Bey, Herat erobert hatte, drängte er die
Illustratoren, Kalligraphen und Buchbinder so rasch zur Arbeit an einem Buch zu
Ehren seines Vaters, daß die Bilder aus den zerlegten Bänden alle
durcheinandergerieten, während die beschriebenen Seiten zerrissen und
verbrannt worden waren. Da jedoch ein Sammelalbum mit willkürlich aufgereihten
Blättern ohne Rücksicht auf die Bücher und Geschichten, zu denen sie gehörten,
für Uluğ Bey, einen
Liebhaber der Malkunst, nicht angemessen war, rief sein Sohn alle Illustratoren
von Herat zusammen und wollte von ihnen die Geschichten hören, damit die
Bildseiten richtig eingeordnet werden konnten. Doch aus jedem Mund kam eine
andere Erzählung, und das Durcheinander wurde noch größer. Daraufhin suchte und
fand man den letzten, uralten und längst vergessenen Ersten Illustrator, der
für alle Schahs und
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