Pamuk, Orhan
zeichnete ich gerade hübsche Knabengesichter, als jemand an die Tür
klopfte. Meine Hand zitterte vor Aufregung, und ich legte den Rohrstift weg.
Wohl oder übel nahm ich vorsichtig das Arbeitspult von meinem Schoß, legte es
beiseite, hastete zur Tür und sprach ein Stoßgebet, bevor ich sie öffnete:
Allahim ...! Da ihr, die aus dem Buch erfahren werdet, was ich hier zu erzählen
habe, Allah viel nähersteht als dieser unserer elend schmutzigen Welt und den
nichtswürdigen Untertanen unseres Padischahs, werde ich es nicht vor euch
verbergen: Der indische Padischah Akbar Chan, der reichste Schah der Welt, will
ein Buch fertigen lassen, das in aller Munde sein wird, und ließ die Kunde
allerorten im Land des Islam verbreiten, damit sich die besten Illustratoren
der Welt an seinen Hof begeben. Seine nach Istanbul entsandten Boten waren gestern
bei mir, um die Einladung in das Land Indien auszusprechen. Nun öffnete ich
erneut die Tür, doch sie waren es nicht, diesmal stand dort der seit unseren
jungen Jahren vergessene Kara. Viel hatten wir nicht gemeinsam mit ihm damals,
weil er so eifersüchtig war. Ja bitte?
Er sei um der Freundschaft willen
gekommen, wolle reden und meine Arbeiten sehen. Ich bat ihn herein, damit er
sich alles ansehen konnte. Er habe gerade erst die Hand des Ersten
Illustrators Altmeister Osman geküßt. Der große Meister habe zu ihm ein großes
Wort gesagt: Der wahre Illustrator sei an dem zu erkennen, was er über die
Blindheit und das Gedächtnis sage. Sodann, versucht es zu verstehen:
BLINDHEIT UND GEDÄCHTNIS
Es gab eine Dunkelheit vor dem Illustrieren, und es wird
nach dem Illustrieren eine Dunkelheit geben. Wir erinnern uns durch unsere
Farben. unser Talent und unsere Leidenschaft an das Wort Allahs:
SEHT
Erinnern ist wissen, was man sah.
Wissen ist sich erinnern an das, was man sah. Sehen ist wissen, ohne sich zu
erinnern. Das bedeutet, illustrieren ist, sich der Dunkelheit zu erinnern. Die
leidenschaftliche Liebe der großen Meister zum Bild weiß, daß die Farben und
das Sehen aus der Dunkelheit geschaffen sind, und möchte durch die Farben zur
Dunkelheit Allahs zurückkehren. Wer ohne Gedächtnis ist, erinnert sich weder an
Allah noch an dessen Dunkelheit. Das Bild aller großen Meister sucht in den
Farben nach jener tiefen Dunkelheit außerhalb aller Zeit. Die großen alten Meister
von Herat haben sie entdeckt, und damit ihr begreift, was es bedeutet, sich an
diese Dunkelheit zu erinnern, muß ich euch folgendes erzählen.
DREI
FABELN VON DER BLINDHEIT UND DEM GEDÄCHTNIS
ELIF
Nefahat-ül Üns ist eine Niederschrift frommer
Legenden von der Hand des Dichters Camí,
aus deren türkischem Text, von dem Gelehrten Osman Lamií übertragen, zu ersehen ist, daß der
allseits berühmte Scheich Ali von Täbris in der Buchmalerwerkstatt des Schah Cihan,
Herrscher aus der Dynastie vom Schwarzen Hammel, eine wundervolle Ausgabe von Hüsrev
und Şirin illustriert
hatte. Elf Jahre währte die Arbeit, wie ich hörte, und der Meister der Meister,
der Illustrator Scheich Ali, habe bei diesem legendären Werk ein solches Talent
bewiesen, daß nur Behzat, der allergrößte der alten Meister, ähnlich herrliche
Seiten hätte schaffen können. Das Buch war kaum zur Hälfte fertig, als Schah
Cihan erkannte, daß er bald der Besitzer eines Wunderwerkes sein würde, wie es
auf der Welt kein zweites gab. Sogleich aber mußte er an seinen erklärten
Todfeind denken, den jungen Herrscher Hasan den Langen aus der Dynastie vom
Weißen Hammel, vor dem er sich fürchtete und den er beneidete, und meinte, er
würde nach Fertigstellung des wundervollen Buches wohl an Ansehen gewinnen,
aber es könnte auch ein noch schöneres als dieses für Hasan den Langen vom
Weißen Hammel gemalt werden. Und weil Schah Cihan zu den von Eifersucht
Besessenen gehörte, die ihr eigenes Glück mit der Angst vergiften, »andere
könnten vielleicht auf dieselbe Weise glücklich sein!«, ahnte er schon jetzt,
daß der große alte Meisterillustrator, sollte er noch ein gleiches Buch wie
dieses, ja, vielleicht ein noch schöneres malen, dies für seinen Todfeind,
Hasan den Langen, tun würde. So beschloß er, den Meisterillustrator Scheich Ali
nach Vollendung des Buches töten zu lassen, weil ein so herrliches Buch nur
ihm allein gehören sollte. Doch eine schöne, gutherzige Tscherkessin aus
seinem Harem gab zu bedenken, daß es genügen würde, den Meistermaler zu
blenden. Dieser glänzende Vorschlag, den Schah Cihan annahm
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