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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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Unbegabtseins und ihrer Unfähigkeit auslegen. Dieser Moral wegen, die
auch teils auf Cemalettin von Kazvin zurückgeht, setzen sich manche von ihnen
im Dunkeln zwischen Spiegel und betrachten beim blassen Licht einer Öllampe
wochenlang ohne Trank und Nahrung die Buchseiten der alten Herater Meister,
damit sie lernen, die Welt wie ein Blinder sehen zu können, obwohl sie in
Wahrheit nicht blind sind.«
    Es klopfte. Als ich öffnete, stand
draußen ein hübscher Lehrjunge aus der Buchmalerwerkstatt mit großen, schönen,
weit aufgerissenen Augen. Er sagte, man habe die Leiche unseres Bruders, des
Illuminators Fein Efendi, in einem ausgetrockneten Brunnen gefunden, nach dem
Nachmittagsgebet würde man den Toten von der Mihrimah-Moschee aus auf den
Friedhof geleiten, und er müsse sich beeilen, um die Nachricht noch anderen zu
bringen. Allah, bewahre uns!

15
  Mein Name ist Ester
    Macht die Liebe den Menschen zum Toren,
oder verlieben sich nur törichte Menschen? All die Jahre gehe ich nun
hausieren, bringe die Leute unter die Haube und weiß noch immer nicht die
Antwort darauf. Zu gerne würde ich ein Paar kennenlernen, das klüger wird, seine
Kabalen geistreicher und schlauer betreibt, wenn es sich ineinander verliebt,
und ganz besonders einen Mann! Ich weiß nur, daß ein Mann, wenn er auf
raffinierte Art kleine Fallen stellt und sich der List bedient, auf keinen Fall
in Liebe entbrannt ist. Was unseren Kara Efendi betrifft, so hat er schon
jetzt seine Kaltblütigkeit eingebüßt und läßt offen erkennen, daß ihm jedes Maß
verlorengeht, sobald er mit mir über Şeküre spricht.
    Auf dem Markt habe ich ihm erzählt,
daß Şeküre ständig an ihn denke, mich nach seiner Antwort gefragt habe,
ich sie so noch nie gesehen hätte, und dergleichen mehr, die auswendig gelernte
alte Leier also, die ich jedem vortrage. Und wie er mich dabei anschaute! Er
tat mir richtig leid. Dann gab er mir einen Brief und sagte, ich solle ihn
»rasch und ohne Umwege« zu Şeküre bringen. Alle Toren glauben, an ihrer
Liebe müsse etwas sein, das besondere Eile verlange, verraten das Ungestüm
ihrer Leidenschaft und geben somit dem oder der Geliebten die Waffe in die
Hand; und wenn die geliebte Person klug ist, verzögert sie die Antwort.
Ergebnis: Eile in der Liebe zögert die Sache hinaus.
    Aus diesem Grund wäre Kara Efendi
mir dankbar gewesen, wenn er gewußt hätte, daß ich diesen mir als »ganz eilig«
übergebenen Brief zuerst woandershin gebracht habe. Ich bin fast erfroren, als
ich auf dem Markt so lange auf ihn warten mußte. Weswegen ich unterwegs eins
meiner Kinder aufsuchen wollte, um mich dort erst einmal aufzuwärmen. Ich nenne
die Mädchen, deren Briefe ich befördert und die ich selbst unter die Haube
gebracht habe, meine Kinder. Das unscheinbare Kind, zu dem ich ging, ist mir so
dankbar, daß es mich nicht nur bei jedem meiner Besuche liebevoll umsorgt, sondern
mir auch noch ein paar Asper in die Hand drückt. Sie sei schwanger, erklärte
die Kleine voller Freude, kochte mir einen Lindenblütentee, und ich trank ihn
mit Genuß. Als ich allein war, zählte ich auch das Geld, das mir Kara Efendi
gegeben hatte. Es waren zwanzig Asper.
    Und ich machte mich wieder auf den
Weg. Ging durch Seitengassen, durch schmale, unheimliche Gänge, wo der Schlamm
gefroren und das Gehen eine Qual war. Während ich an die Tür des Hauses
klopfte, packte mich der Schelm im Nacken, und ich begann zu schreien:
    »Die Hausiererin ist da, die
Hausiererin! Ich habe Musselintücher vom Feinsten, des Sultans würdig, mit
Kräuselrand, herrliche Schals, aus Kaschmir angekommen, Gürtelbänder aus
Bursa-Samt, die besten Hemden aus ägyptischem Leinen und mit seidengefaßtem
Rand, Musselindecken mit reichen Ornamenten, Unter- und Oberlaken, Taschentücher
in allen Farben. Die Hausiererin ist da!«
    Die Tür ging auf, ich trat ein. Das
Haus roch wie immer nach Bett, Schlaf, Bratfett und Feuchtigkeit. Dieser
schreckliche Geruch bei alternden Junggesellen.
    »Warum schreist du, alte Hexe?«
fragte er.
    Schweigend holte ich den Brief
hervor. Wie ein Schatten kam er plötzlich in dem halbdunklen Zimmer auf mich zu
und riß ihn mir aus der Hand. Er ging ins Nebenzimmer, wo ständig eine Lampe
brannte. Ich wartete an der Türschwelle.
    »Ist der Efendi, dein Vater, nicht
da?« fragte ich.
    Er gab keine Antwort.
Selbstversunken las er den Brief. Ich ließ ihn in Ruhe lesen. Sein Gesicht
konnte ich nicht sehen, weil die Lampe hinter ihm stand. Nachdem er

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