Pamuk, Orhan
Prinzen, die Regenten der letzten vierundfünfzig Jahre in
Herat, sein Augenlicht geopfert hatte. Als man gewahr wurde, daß der alte
Meister mit blinden Augen auf die Bilder starrte, gab es einige Aufregung, ja,
mancher lachte sogar. Doch der Greis verlangte nach einem klugen Kind unter
sieben Jahren, das weder lesen noch schreiben konnte. Man brachte sofort einen
Jungen herbei. Der alte Meister legte ein Bild vor ihn hin und sagte: Erzähle,
was du siehst. Während der Junge schilderte, was er sah, richtete der alte
Illustrator seine Augen gen Himmel, lauschte aufmerksam und erklärte dann:
»Alexander umarmt den sterbenden Darius, aus dem Buch der Könige von
Firdevsi«, »Die Geschichte des in seinen hübschen Schüler verliebten Lehrers,
aus dem Rosengarten von Sadi«, »Der Wettbewerb der Ärzte, aus der Schatzkammer
der Geheimnisse von Nizami« ... Die anderen Illustratoren ärgerten sich
über den blinden Alten und erklärten: »Das hätten wir auch gewußt! Es sind die
bekanntesten Szenen aus den berühmtesten Geschichten.« Nun ließ der alte und
blinde Meistermaler die kompliziertesten Bilder vor dem Jungen ausbreiten und
hörte ihm wiederum aufmerksam zu. »Hürmüz vergiftet jeden einzelnen
Kalligraphen, aus dem Buch der Könige von Firdevsi«, sagte er und
blickte wieder gen Himmel. »Eine minderwertige Wiedergabe der schlimmen Geschichte
des Mannes, der sein Weib und ihren Liebhaber in der Krone des Birnbaums
entdeckt, aus dem Mesnevi von Mevlana«, erklärte er, erkannte auf diese
Weise die von dem Jungen beschriebenen Bilder und sorgte so dafür, daß sie in
Bücher gebunden werden konnten. Nachdem Uluğ Bey mit seinem Heer in Herat
einmarschiert war, fragte er den greisen Illustrator nach dessen Geheimnis, wie
er trotz seiner Blindheit jene Geschichten hatte erkennen können, die den
Meistermalern, obwohl sie doch sehen konnten, unverständlich geblieben waren.
»Der Grund dafür ist nicht, wie angenommen wird, mein wegen der Blindheit
besser gewordenes Gedächtnis«, antwortete der greise Illustrator. »Ich vergesse
niemals, daß man sich der Geschichten nicht allein durch der Bilder der Phantasie,
sondern auch dank der Wörter erinnert.« Worauf Uluğ Bey meinte, seine Illustratoren hätten ja auch
jene Wörter und Geschichten gekannt und dennoch die Bilder nicht richtig
einreihen können. Darauf sagte der Alte: »Weil sie zwar das Illustrieren, das ihre
Fertigkeit und Kunst ist, gründlich bedenken, aber nicht wissen, daß die großen
alten Meister diese Bilder aus dem Gedächtnis Allahs abgeleitet haben.« Uluğ
Bey fragte, wie ein Kind das habe wissen können. Und der Alte erklärte: »Das
Kind weiß es nicht. Aber ich, ein alter, blinder Illustrator, weiß, daß Allah
sein Reich so schuf, wie es sich ein kluges Kind von sieben Jahren vorstellt,
und wie es dieses Reich sehen möchte. Denn Allah schuf sein Reich zuerst, damit
man es sehe. Dann gab er uns die Wörter, weil wir das Gesehene miteinander
teilen und darüber sprechen sollten, doch wir haben aus den Wörtern Geschichten
gemacht und geglaubt, auch Bilder würden nur für Geschichten gemalt. Dabei ist
der Maler nur auf der Suche nach dem Gedächtnis Allahs, und es bedeutet, sein
Reich mit seinen Augen zu sehen.«
CIM
Weil unter den Illustratoren stets die
verständliche Sorge und Furcht vor dem Erblinden umgeht, haben die arabischen
Buchmaler einer bestimmten Periode bei Tagesanbruch lange Zeit den westlichen
Horizont betrachtet, wie man weiß, und im Jahrhundert darauf hat der größte
Teil ihrer Gefährten in Schiras morgens auf nüchternen Magen zerstoßene
Walnußkerne mit Rosenblättermus verzehrt. Im gleichen Zeitraum breitete sich
unter den alten Illustratoren von Isfahan das Erblinden geradezu wie die Pest
aus, und da sie meinten, das Sonnenlicht sei der Grund dafür, versahen sie ihre
Tätigkeit in einem halbdunklen Winkel ihrer Räume und die meiste Zeit bei
Kerzenlicht, damit die Sonne nicht direkt auf das Arbeitspult fiel, und in der
usbekischen Buchmalerwerkstatt von Buchara wuschen die Meister am Ende des
Tages ihre Augen mit dem Wasser, das ein Scheich besprochen hatte. Unter all
diesen Anwendungen fand natürlich der würdevolle Illustratormeister und Prophetenenkel
Mirek, der Lehrer des großen Altmeisters Behzat, die klarste Deutung für die
Blindheit. Meister Mirek sah kein Unheil darin, sondern das letztendliche
Glück, das Allah jenem Malkünstler verlieh, der sein Leben all den Augenweiden
des Allmächtigen
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