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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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jeder, so bildete auch er alle Dinge nach der
Art der viel älteren Meister ab, was ihn zum größten Altmeister machte. Seine
Bescheidenheit, seine vollkommene Hingabe an die Kunst des Malens, durch die er
Allah dienen wollte, hielt ihn stets von den Streitigkeiten fern, die in allen
Buchmalerwerkstätten gang und gäbe sind, und ließ ihn ebensowenig trotz seines
angemessenen Alters nach der Stellung des Ersten Illustrators streben. Im Lauf
seines ganzen Malerlebens zeichnete er geduldig Einzelheiten in Ränder und
Ecken, zeichnete Gräser, um die Winkel zu füllen, besetzte die Bäume mit
Tausenden von Blättern, malte das Gekräusel der Wolken, die Mähnen der Pferde,
die Strähne für Strähne gekämmt sein sollten, das Mauerwerk aus Ziegeln, die
zahllosen, sich ständig wiederholenden Muster der Wände und Zehntausende von
stets gleichen Gesichtern mit schmalen Augen und schmalem Kinn. Er war sehr
glücklich und sehr still, versuchte niemals, sich bemerkbar zu machen, Stil
oder Persönliches zu beanspruchen. Welcher Chan, welcher Kronprinz es auch
war, in dessen Buchmalerwerkstatt er gerade arbeitete, dort fühlte er sich zu
Hause und sah sich als einen Teil dieses Hauses an. Und wo sich die Schahs, die
Chane einander an die Kehle gingen und die Buchmaler wie die Haremsfrauen von
einer Stadt zur anderen zu ihren neuen Herren wanderten, dort wurde als erstes
in den von ihm gezeichneten Blättern, dem Rasen, den runden Felsen, in den
geheimen Falten seiner Geduld die Malweise der neuen Werkstatt sichtbar. In
seinem achtzigsten Lebensjahr hatte man vergessen, daß er sterblich war, und
begann zu glauben, er lebe in den von ihm gemalten Legenden. Manche sagten, er
würde vielleicht, weil er ein Dasein außerhalb der Zeit führte, niemals
sterben. Einige meinten, die Zeit habe stillgestanden für ihn, und durch dieses
Wunder sei er vor dem Erblinden bewahrt worden, obwohl er haus- und heimatlos
in Werkstatträumen lebte, in Zelten nächtigte und seine Augen die meiste Zeit
auf irgendein Papier gerichtet waren. Andere aber behaupteten, er sei in
Wahrheit blind, doch könne er auf das Sehen verzichten, weil er alles auswendig
zeichnete. Diesem legendären Meister, der nun hundertneunzehn Jahre zählte, nie
in seinem Leben geheiratet, nie geliebt hatte, begegnete in der
Buchmalerwerkstatt des Schah Tahmasp das hundert Jahre lang gezeichnete
Beispiel männlicher Schönheit mit schmalen Augen, spitzem Kinn und mondgleichem
Angesicht in Fleisch und Blut: ein halb chinesischer, halb kroatischer Lehrling
von sechzehn Jahren, in den er sich verständlicherweise sofort verliebte. Er
ergab sich, wie es alle wahrhaft Verliebten tun würden, den Machtkämpfen unter
den Buchmalern, den Intrigen, der Lüge und dem Betrug, um den schönen Knaben
für sich zu gewinnen. Auch wenn der alte Meistermaler von Chorasan zunächst
belebt wurde durch den Versuch, das Begehren jenes Tages zu stillen, von dem
er sich hundert Jahre lang hatte fernhalten können, so riß es ihn doch aus der
Unendlichkeit der sagenhaften Zeit. Während er einmal um die Zeit des
Nachmittagsgebets in den Anblick des wunderschönen Lehrlings versunken war,
erkältete er sich am offenen Fenster durch den eisigen Wind von Täbris, erblindete
am nächsten Tag beim Niesen und stürzte zwei Tage darauf von der hohen
Steintreppe der Buchmalerwerkstatt zu Tode.
    »Den Namen Mehmets des Langmütigen aus
Chorasan habe ich wohl gehört, doch die Geschichte kannte ich nicht«, sagte
Kara.
    Diese Worte waren mit Bedacht
gewählt und sollten mir zeigen, er habe verstanden, daß die Geschichte zu Ende
und sein Kopf mit dem von mir Erzählten angefüllt war. Ich schwieg eine Weile,
damit er mich ausgiebig betrachten konnte. Da ich unruhig werde, wenn meine
Hände unbeschäftigt sind, hatte ich gleich nach dem Beginn der zweiten
Geschichte meine Arbeit dort wiederaufgenommen, wo ich aufgehört hatte, als man
an die Tür klopfte. Mahmut, mein hübscher Lehrling, der stets zu meinen Füßen
sitzt, meine Farben umrührt, meine Rohrstifte spitzt und manchmal meine Fehler auslöscht,
saß auch jetzt still neben mir, hörte zu und schaute mich an, und von nebenan
kam das leise Getrippel und Getrappel meiner Frau.
    »Ah«, sagte Kara, »der Padischah ist
aufgestanden!«
    Während er staunend auf das Bild
sah, tat ich so, als wäre der Anlaß für sein Staunen ohne Bedeutung, doch ich
sag's euch geradeheraus: In dem Buch der Feste, in dem wir das
Beschneidungsfest schildern, ist unser

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