Pamuk, Orhan
gewidmet hatte. Denn Illustrieren ist die Ansicht, die sich
Allah beim Blick auf sein Reich bietet, und diese einzigartige Sicht wird nur
in der Erinnerung möglich, wenn die Augen nach einem arbeitsreichen Leben
ermüdet sind, wenn der Malkünstler sich verausgabt und sein Augenlicht
verloren hat. Das bedeutet, allein aus dem Gedächtnis der blinden Malkünstler
läßt sich erkennen, wie Allah sein Reich sieht. Der greise Maler schult sein
Leben lang seine Hand, damit sie das wunderbare Bild zu Papier bringen kann,
wenn ihm dieses Bild der Phantasie erscheint, das heißt, wenn Allahs Sicht vor
seinem Auge aus dem Dunkel der Erinnerung und der Blindheit auftaucht. Wie der
Historiker Mirza Mohammed Haydar Duglat über die damaligen Illustratoren und
Legenden von Herat schrieb, hat der Altmeister und Prophetenenkel Mirek zu
dieser Auffassung vom Malen auch das Beispiel eines Illustrators zitiert, der
ein Pferd abbilden will. Demnach malt sogar der unbegabteste Illustrator das
Bild aus dem Gedächtnis, auch wenn er, weil Leere herrscht in seinem Kopf, das
Pferd gleichzeitig anschaut und zeichnet, wie heutzutage die fränkischen
Maler. Denn niemand kann im gleichen Augenblick das Pferd wie auch das
Zeichenblatt anschauen, auf dem er es abbildet. Zuerst blickt der Maler auf
das Tier, dann bringt er das Gesehene sogleich aus dem Gedächtnis zu Papier.
Auch wenn nur ein Lidschlag an Zeit vergeht, so ist doch, was er aufs Papier
überträgt, nicht das Pferd vor seinen Augen, sondern die Erinnerung an das eben
erblickte Tier, was beweist, daß ein Bild zu malen selbst dem schlechtesten
Illustrator nur mit Hilfe des Gedächtnisses gelingen kann. Als Ergebnis dieser
Auffassung, die in dem arbeitsreichen Leben des Malkünstlers eine Vorbereitung
auf die später kommende, beglückende Blindheit und das Erinnerungsvermögen des
Blinden sieht, betrachteten die Herater Altmeister jener Zeit die Bilder, die
sie für bücherliebende Schahs und Prinzen malten, als eine Übung, eine
Schulung der Hand und hielten die Mühe, das unaufhörliche Zeichnen und das
tagelange, unaufhörliche Betrachten der Seiten beim Schummerlicht der Leuchter
für eine glückliche Tätigkeit, die den Illustrator zur Blindheit führte. In
seiner lebenslangen Suche nach dem besten Zeitpunkt zum Erreichen dieses Endes
von höchstem Glück hat der große Altmeister Mirek manchmal auf einer Kralle,
einem Reiskorn, ja einem Haar Bäume im vollen Blätterschmuck gezeichnet und ist
damit absichtlich der Blindheit entgegengeeilt oder er hat manchmal fröhliche,
sonnige Gärten gemalt und damit die Dunkelheit bedachtsam hinausgeschoben. Und
als er siebzig Jahre zählte, öffnete Sultan Hüseyin Baykara für ihn seine
hinter Schloß und Riegel liegende Schatzkammer mit Tausenden von angehäuften
Buchseiten, um den großen Altmeister zu belohnen. Nachdem Meister Mirek
zwischen den Waffen, der Seide, dem Samt und dem Gold der Schatzkammer drei
Tage und drei Nächte lang beim Licht der goldenen Leuchter die herrlichen
Seiten in den legendenumwobenen Büchern der alten Meister von Herat betrachtet
hatte, wurde er blind. Er nahm diese neue Lage ergeben wie einer der Allah
dienenden Engel hin, sprach nie mehr und malte niemals mehr ein Bild. Mirza
Mohammed Haydar Duglat, der Verfasser von Ra ş ids Geschichte, erklärt dies damit, daß
ein Illustrator, der in die Landschaft von Allahs unsterblicher Zeit
eingegangen ist, niemals mehr zu jenen Buchseiten zurückkehren kann, die für
gewöhnliche Sterbliche angefertigt worden sind, und sagt: Dort, wo die
Erinnerungen des blinden Illustrators Allah erreichen, herrscht absolute
Stille, beglückendes Dunkel und die Unendlichkeit einer leeren Seite.
Ich wußte natürlich genau, daß Kara weniger
meine Antwort auf die Frage des Altmeisters Osman nach der Blindheit und dem Gedächtnis
hören als vielmehr in Ruhe meine Besitztümer, mein Zimmer und meine Bilder
betrachten wollte. Dennoch war ich froh zu sehen, wie sehr ihm meine
Erzählungen nahegegangen waren. »Die Blindheit ist ein beglückendes Reich, zu
welchem der Satan und die Schuld keinen Zutritt haben«, sagte ich zu ihm.
Und Kara sagte: »Manche
Illustratoren der alten Schule in Täbris, die unter dem Einfluß des Altmeisters
Mirek das Blindsein als die höchste Tugend von Allahs Gnaden ansehen, spielen
noch immer den Blinden, weil sie sich schämen, trotz ihres hohen Alters noch im
Besitz ihrer Sehkraft zu sein, und fürchten, man könne dies als einen Beweis
ihres
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