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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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plötzlichen
Ahnung heraus sagte ich ihm ins Gesicht, was ich in jenem Augenblick
beschlossen hatte: »Ich werde nicht mehr weitermachen mit meinem Buch.«
    »Wie das?« fragte Schmetterling mit
veränderter Miene.
    »Es steht unter keinem guten Stern.
Außerdem schickt unser Padischah kein Geld mehr. Sag's auch Olive und Storch.«
    Er hätte vielleicht noch andere
Fragen gestellt, doch wir fanden uns unverhofft auf dem Friedhof am Abhang
wieder, zwischen eng beieinanderstehenden Zypressen, hohem Farnkraut und
Grabsteinen. Da die Grabstätte dicht von Menschen umgeben war, erkannte ich
nur an den sich mehrenden Rufen »Bismillah« und »Alâ milleti
Resulullah« und den lauteren Klagen, daß der Leichnam in diesem Augenblick
ins Grab gesenkt wurde.
    Jemand sagte: »Deckt sein Gesicht
auf, ganz und gar!«
    Sie ziehen das Leichentuch fort, und
falls ein Auge übrigblieb in dem zerquetschten Kopf, tauschen sie Blicke mit
dem des Toten, doch ich kann nichts sehen, weil ich zu weit hinter den anderen
stehe. Nicht am Grab, sondern an einem ganz anderen Ort hatte ich dem Tod ins
Auge geschaut.
    Eine Reminiszenz: Vor dreißig Jahren
hatte sich der hochselige Großvater unseres Padischahs in den Kopf gesetzt, den
Venezianern die Insel Zypern abzunehmen, worauf dem Scheich-ül-Islam Ebussuut
Efendi sofort wieder einfiel, daß diese Insel einst von den ägyptischen Sultanen
zur Proviantierung der Städte Mekka und Medina bestimmt worden war, und er eine
Fetwa herausgab, die besagte, es gehe nicht an, daß eine Insel, welche die
heiligen Stätten des Glaubens verköstigt habe, in den Händen der ungläubigen
Christen bleibe. Auf diese Weise hatte ich mich auf meiner ersten Fahrt als
Gesandter der schweren Aufgabe zu unterziehen, den Venezianern diesen
unerwarteten Beschluß mitzuteilen, daß sie uns die Insel überlassen müßten. Ich
hatte die Kirchen besucht, die Brücken, die Paläste bestaunt in Venedig, war
von den Gemälden in den Häusern der Reichen am stärksten verzaubert gewesen,
hatte bei all dieser Verwunderung der mir erwiesenen Gastfreundschaft vertraut
und den Brief voller Drohungen übergeben, hatte das anmaßende Verlangen
unseres Padischahs mitgeteilt, die Insel Zypern herauszugeben. Die Venezianer
waren so entrüstet gewesen, daß in dem sofort versammelten Konzilium
beschlossen wurde, ein solcher Brief sei nicht einmal eine Debatte wert. Zudem
war ich durch die aufgebrachte Menge im Palast des Dogen in die Enge getrieben
worden, einige Strolche übertölpelten die Wachen, die Torhüter und versuchten,
mich zu erwürgen, so daß mich der Doge von zwei ihm ergebenen Edelleuten durch
die Gänge des Palastes führen und durch eine Hinterpforte zu einem der Kanäle
ins Freie bringen ließ. In einem Nebel wie diesem hier nahm mich draußen ein
Fährmann in Empfang, hochgewachsen, weißgekleidet und so blaß, daß ich ihn
einen Lidschlag lang für den Tod hielt, in seine Augen blickte und mich selbst
darin sah.
    Ich stellte mir sehnsüchtig vor, daß
ich mein Buch heimlich beenden und noch einmal nach Venedig fahren könnte. Das
Grab war sauber zugedeckt, und ich trat heran. Jetzt prüfen ihn dort oben die
Engel, fragen nach seinem Geschlecht, seinem Glauben, seinem Propheten. Ich
dachte an meinen eigenen Tod.
    Eine Krähe flog auf neben mir.
Freundlich blickte ich in Karas Augen und bat darum, daß er mir seinen Arm
reiche und mich auf dem Rückweg begleite. Er solle früh am nächsten Morgen zu
mir nach Hause kommen, sagte ich, um an meinem Buch zu arbeiten. Denn sobald
ich an meinen eigenen Tod dachte, hatte ich auch begriffen, daß ich das Buch
unter allen Umständen beenden mußte.

18
  Sie werden mich Mörder nennen
    Ich habe am meisten von allen geweint, als
man die zerschmetterte Leiche des armen Fein Efendi mit schlammiger, kalter
Erde bedeckte. Laßt mich, habe ich geschrien, ich will mit dem Toten sterben,
will mit ihm zusammen begraben werden, und sie hielten mich fest, damit ich
nicht ins Grab fiel. Als ich dem Ersticken nahe schien, preßten sie ihre Hände
an meine Schläfen und zogen mir den Kopf zurück, damit ich wieder zu Atem kam.
Schließlich nahm ich mich zusammen, denn die Blicke der Verwandten des
Verstorbenen sagten mir, daß mein Schluchzen und meine Tränen übertrieben
waren. Und die Klatschmäuler in der Buchmalerwerkstatt hätten durch mein
heftiges Weinen auf den Gedanken kommen können, es habe zwischen dem Fein
Efendi und mir eine Herzensbindung bestanden.
    So verbarg ich mich bis

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