Pamuk, Orhan
heiraten?«
Ich schlug die Augen nieder und
schwieg, doch nicht aus Scham, sondern vor Zorn. Schlimmer noch, obwohl ich
merkte, wie zornig ich war, wurde mein Zorn noch stärker, weil mir keine
Antwort einfallen wollte. Dann stellte ich mir meinen Vater in jener so lächerlichen
wie widerlichen Lage vor, wie er mit Hayriye im Bett lag. Mir kamen die Tränen,
doch ich blickte nur vor mich hin und sagte: »Daß mir der Kürbis auf dem Herd
nicht anbrennt!«
Ich betrat das neben der Treppe
liegende Zimmer mit dem stets verschlossenen Fensterladen, unter dem sich der
Brunnen befindet, tastete im Dunkeln rasch nach meinem Bettzeug, breitete es
aus und warf mich darauf. Ach, wie schön war's in der Kindheit gewesen, nach
einem erlittenen Unrecht ins Bett zu kriechen und sich in den Schlaf zu weinen!
Niemand außer mir selbst mag mich leiden, und dieses Alleinsein ist so
schmerzlich, daß ihr anderen, während ich bittere Tränen vergieße, mein
Schluchzen und Jammern hört und mir dann zu Hilfe kommt!
Ein wenig später merkte ich, daß
sich Orhan zu mir gelegt und seinen Kopf zwischen meine Brüste geschoben hatte.
Auch er seufzte tief und weinte. Ich zog ihn ganz dicht heran und drückte ihn
fest an mich.
»Weine nicht, Mutter«, bat er mich
bald darauf, »mein Vater wird aus dem Krieg zurückkommen.«
»Woher weißt du das?«
Er schwieg. Trotzdem liebte ich ihn
dafür, drückte ihn so fest an meine Brust, daß ich alle meine Sorgen vergaß.
Bevor ich jedoch mit dem zarten Körper meines Sohnes in den Armen einschlafe,
muß ich euch noch eine Sache gestehen, die mich bedrückt: Was ich vorhin in
meiner Wut über Vater und Hayriye sagte, tut mir jetzt aufrichtig leid. Nein,
ich habe keine Lüge erzählt, aber ich schäme mich des Gesagten trotzdem so
sehr, daß ihr es vergessen solltet, als sei es nie ausgesprochen worden.
Betrachtet es so, als würden Vater und Hayriye so etwas nie tun, wäre das nicht
möglich?
17
Ich bin euer Oheim
Es ist schwer, Vater einer Tochter zu sein, sehr
schwer. Sie hat drinnen geweint, ihr Schluchzen war zu hören, doch ich konnte
nichts anderes tun, als die Seiten des Buches in meiner Hand anzuschauen. Es
war das Kitab-ül Ahval-ül Kiyamet – das »Buch von den Letzten Dingen« –,
in dem ich zu lesen versuchte, und auf einer Seite stand geschrieben, die Seele
würde drei Tage nach dem Tod mit der Erlaubnis Allahs den alten Körper
besuchen, den sie vorher bewohnt hatte. Wenn die Seele den traurigen Zustand
ihrer alten Hülle inmitten von Blut und fauligem Wasser im Grab zu sehen bekam,
dann würde sie weinen und klagen: »Armer Körper, mein armer, lieber alter Körper!
« Also dachte ich eine Weile an das bittere Ende des Fein Efendi, an seinen
Zustand am Grund des Brunnens, dachte daran, daß seine Seele ihn nicht im Grab,
sondern im Brunnen aufgesucht haben könnte und natürlich tief bekümmert gewesen
sein müßte.
Als Şeküres Schluchzer
aufhörten, schloß ich das Buch des Todes. Ich zog mir ein weiteres Wollhemd
über, band die breite Filzbinde fest um, damit sie mich wärmte, schlüpfte in
meinen mit Hasenfell gefütterten Schalwar und wollte gerade das Haus verlassen,
als mir Şevket an der
Tür begegnete.
»Wohin, Großvater?«
»Geh ins Haus. Zur Beerdigung.«
Ich ging durch die leeren,
schneebedeckten Straßen, vorbei an alten Brandstätten und an den verfallenen,
schiefen und kaum noch aufrecht stehenden Behausungen der Armen. Es war ein
langer Weg bis hin zur Stadtmauer, der mich durch die Viertel am Rande der
Stadt führte, durch Felder und Gemüsegärten, vorbei an den Händlern für Rad- und
Stellmacherwaren, an Werkstuben, wo man Eisenteile fertigte, an den
Werkstätten der Sattler, Geschirrmacher und Hufschmiede, und damit ich nicht
ausglitt auf dem Eis und hinfiel, setzte ich einen Fuß mit der Bedachtsamkeit
des Alters vor den anderen.
Warum das Totengebet ausgerechnet in
der Mihrimah-Moschee weit draußen beim Edirne-Tor gesprochen werden sollte,
weiß ich nicht. Vor der Moschee umarmte ich die einfältigen und verwirrten
Brüder des Toten, die sich zornig und stolz gaben. Illustratoren und
Kalligraphen, alle umarmten wir uns und weinten miteinander. Während wir in dem
bleiernen Nebel, der sich plötzlich ringsumher senkte, das Totengebet
verrichteten, blieb mein Auge an dem Sarg auf der steinernen Bank hängen, und
ich verspürte einen solchen Zorn auf den gemeinen Kerl, der diese Tat begangen
hatte, daß mir sogar das Gebet Allahümme Barik in
Weitere Kostenlose Bücher