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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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daß ihr mir sogar dann auf
der Spur seid, wenn ich ganz still für mich nachdenke. Ich kann mir in meinem
Ingrimm die Einzelheiten meines Lebens, die mich bloßstellen würden, nicht
unbesonnen durch den Kopf gehen lassen. Während ich die drei Elif, Be und Cim
genannten Dinge schildere, belauert ein Teil meines Verstandes eure Blicke.
    Die Krieger, Liebenden, Prinzen und
sagenhaften Helden, die ich zehntausendmal abgebildet habe, waren einerseits
dem dort Dargestellten zugewandt, den Feinden, die sie in jenen legendären
Zeiten bekämpften, den Drachen, mit denen sie rangen, den schönen, tränenvergießenden
Mädchen. Andererseits jedoch waren sie mit einem Teil ihres Körpers auch jenen
Liebhabern der Malkunst zugewandt, die das herrliche Bild betrachteten. Falls
ich nun einen Stil, eine Persönlichkeit besitze, so ist sie nicht nur in
meinen Illustrationen, sondern auch in meinem Mord und in meinen Worten
verborgen. Findet aus der Farbe meiner Worte heraus, wer ich bin!
    Und wenn ihr mich ertappt habt, dann
wird auch, so denke ich, die unglückliche Seele des armen Fein Efendi ihren
Frieden finden. Während ich jetzt hier unter den Bäumen dem Zwitschern der Vögel
lausche, die schimmernden Wasser des Goldenen Horns und die Kuppeln von
Istanbul betrachte und einmal mehr spüre, wie schön es ist zu leben, bedeckt
man ihn mit Erde, eine Schaufel nach der anderen. Der arme Fein Efendi, er
mochte mich nicht mehr, nachdem er sich in letzter Zeit so sehr zu den
Anhängern des finster blickenden Predigers aus Erzurum hingezogen fühlte, doch
hat es in diesen fünfundzwanzig Jahren, die wir mit dem Illustrieren der Bücher
unseres Padischahs verbrachten, durchaus Zeiten gegeben, da wir uns
nahestanden. Wir wurden Freunde, als wir vor zwei Jahrzehnten am Buch des
Lebens und der Taten des seligen Vaters unseres Sultans arbeiteten, doch unsere
engste Freundschaft entstand, als wir gemeinsam acht Bildseiten für einen
Diwan des Fuzuli fertigten. Damals war ich hierhergekommen, um seinen wohl berechtigten,
doch unlogischen Wünschen zu entsprechen (der Malkünstler müsse den
illustrierten Text in seiner Seele nachempfinden!), und hatte an diesem
Sommerabend geduldig den Versen aus dem Diwan des Fuzuli gelauscht, die er
recht wirkungsvoll vortrug, während die Schwalben in wilden Schwärmen über
unseren Köpfen dahinjagten. Eine Zeile ist mir von jenem Abend im Gedächtnis geblieben:
»Ich bin nicht ich, du bist es stets, wenn ich sage ich.« Und ich fragte mich
auch, wie man diese Zeile malen könnte.
    Sogleich nachdem ich von dem
Leichenfund erfuhr, bin ich zu seinem Haus geeilt, wo der kleine Garten, in dem
wir gesessen und Verse gesprochen hatten, jetzt unter dem Schnee lag und mir
noch kleiner vorkam, wie alle Gärten, die wir nach Jahren wiedersehen. So auch
das Haus. Aus dem Nebenzimmer hörte man übertriebenes Wehklagen und die lauter
werdenden Schreie der Frauen, als ob sie miteinander wetteiferten. Als der
älteste Bruder sprach, hörte ich aufmerksam zu: Das Gesicht unseres armen
Bruders Fein sei nahezu zerstückelt, der Schädel zerschmettert gewesen. Es war
schwer gewesen für die Brüder, ihn zu erkennen, als man ihn aus dem Brunnen
zog, auf dessen Grund er vier Tage gelegen hatte, so daß man Kalbiye, seine
arme Ehefrau, von zu Hause holte, die im Dunkel der Nacht an den zerrissenen
Kleidern der unkenntlichen Leiche feststellen mußte, wer der Tote war. Mir kam
Yusuf in den Sinn, den die neidischen Brüder in den Brunnen warfen, die
midianitischen Kaufleute aber daraus befreiten. Ich stelle gern diese Szene aus
der Legende von Yusuf und Suleika dar, erinnert sie doch daran, daß im Leben
der Bruderneid am tiefsten Grunde der Gefühle liegt.
    Als plötzlich alle schwiegen, fiel
mir auf, daß sie mich anschauten. Sollte ich weinen? Doch mein Blick blieb an
Kara hängen. Mieser Kerl, er bespitzelt uns alle und versucht, den Eindruck zu
erwecken, als sei er vom Oheim Efendi beauftragt worden, unter den
Illustratoren den wahren Kern der ganzen Angelegenheit herauszufinden.
    »Wer kann eine so niederträchtige
Tat vollbringen!« rief der älteste Bruder aus. »Welcher gewissenlose Mensch
bringt es fertig, unseren Bruder, der doch keiner Ameise etwas antun konnte,
so grausam zu ermorden?«
    In diese mit Weinen beantwortete
Frage stimmte auch ich von Herzen ein und suchte selbst nach einer Antwort
darauf. Wer waren die Feinde von Fein? Wer hätte ihn getötet, wenn ich's nicht
gewesen wäre? Ich erinnere mich

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