Pamuk, Orhan
nacht habe ich endgültig begriffen, daß mein
Ehemann niemals mehr zurückkehren wird. Es muß wahr sein, was ich im Traum sah:
Sie haben ihn umgebracht. Er ist schon längst zum Fraß der Wölfe und Geier
geworden.« Die letzten Worte hatte sie seltsam zornig und nur flüsternd gesagt,
als könnten es sonst die schlafenden Kinder vernehmen.
»Ich möchte, daß dieses Buch, für
das ich alles gegeben habe, vollendet wird, falls man mich umbringt. Schwöre es
mir!«
»Ich schwöre es. Wer aber wird Euer
Buch vollenden?«
»Kara. Du kannst das erreichen.«
»Ihr sorgt ja ohnehin dafür, daß er
es tut, Väterchen«, sagte sie, »Ihr braucht mich doch gar nicht.«
»Richtig, doch er nimmt die Aufgabe
deinetwegen auf sich. Werde ich umgebracht, dann könnte es sein, daß er aus
Furcht davon abläßt.«
»Dann kann er mich auch nicht
heiraten«, sagte lächelnd meine kluge Tochter.
Wie komme ich darauf, sie hätte
gelächelt? Während des ganzen Gesprächs hatte ich nichts weiter erkennen können
als hin und wieder ein Glänzen in ihren Augen. Beide aufs höchste gespannt, so
standen wir uns mitten im Zimmer gegenüber.
Ich konnte mich nicht enthalten zu
fragen: »Tauscht ihr Nachrichten aus, gebt ihr euch Zeichen?«
»Wie könnt Ihr so etwas nur denken?«
Ein langes, banges Schweigen folgte.
In weiter Ferne bellte ein Hund. Mir wurde kalt. Es war jetzt so dunkel im
Zimmer, daß wir einander nicht mehr sehen, sondern die Gegenwart des anderen
nur noch ahnen konnten. Schließlich umarmten wir uns, umarmten uns mit aller
Kraft. Sie begann zu weinen, sagte, sie vermisse ihre Mutter. Ich streichelte
sie und küßte ihr Haar, das duftete wie das ihrer Mutter. Dann führte ich sie
zu ihren Kindern, die schlafend beieinanderlagen, und hieß auch sie zu Bett
gehen. Als ich die letzten beiden Tage überdachte, hegte ich keinen Zweifel
mehr, daß sich Şeküre und Kara Nachrichten zukommen ließen.
22
Mein Name ist Kara
Nach meiner nächtlichen Heimkehr machte ich mich sogleich
von meiner Hauswirtin los, die so schnell für mich Muttergefühle zu entwickeln
begann, zog mich in mein Zimmer zurück, warf mich auf mein Lager und dachte an Şeküre.
Laßt mich mit dem Geraschel
beginnen, auf das ich gespannt gehorcht hatte: Sie ließ sich nicht vor mir
blicken bei meinem zweiten Besuch in ihrem Haus nach zwölf Jahren. Andererseits
war es ihr gelungen, mich auf zauberische Weise einzukreisen, und ich war mir
sicher, daß sie mich ständig beobachtete, meine Eignung als zukünftiger Ehemann
abschätzte und dabei eine verständliche Freude an dem Spiel an den Tag legte.
Aus diesem Grund war es mir, als würde auch ich sie ständig sehen. Dadurch
lernte ich, Ibn Arabi besser zu verstehen, wenn er von der Liebe sagt, sie sei
fähig, das Unsichtbare sichtbar zu machen, und sie wünsche, dem Verborgenen
ständig nahe zu sein.
Aus dem Knarren des Holzes und aus
den Geräuschen des Hauses konnte ich entnehmen, daß Şeküre mich ständig beobachtete.
Einmal war ich mir ganz sicher, daß sie und die Kinder sich in dem Nebenzimmer
befanden, das zur Diele ging, denn ich hörte, wie die Kinder sich schubsten und
stritten, dann aber wohl durch die drohenden Blicke und zusammengezogenen
Brauen der Mutter zum Verstummen gebracht wurden. Hin und wieder hörte ich auch
alle drei flüstern, aber nicht auf natürliche Weise, wie um einen ins Gebet
Versunkenen nicht zu stören, sondern recht auffällig, worauf dann heftiges
Gekicher folgte.
Ein andermal wieder kamen beide
Jungen, Şevket und Orhan, herein, während ihr Großvater mir die Wunder von
Licht und Schatten erklärte, und boten uns Kaffee an auf einem Tablett, wobei
ihr aufmerksames und artiges Benehmen verriet, daß es in allen Einzelheiten
vorher sorgfältig geplant worden war. Eigentlich wäre Hayriye diese Aufgabe
zugefallen, doch ich dachte mir, ihre Mutter habe es so eingerichtet, damit
ihre Kinder den Mann, der vielleicht zu ihrem Vater würde, von nahem sehen und
etwas über ihn berichten könnten, und sagte zu Şevket: »Was hast du für
schöne Augen!«, spürte aber sogleich, daß Orhan, der jüngere, eifersüchtig
sein würde, fügte deshalb hinzu: »Genauso wie du!« und küßte beiden Kindern
die Wangen, nachdem ich ganz rasch ein blasses Nelkenblütenblatt aus meiner
Tasche geholt und auf das Tablett gelegt hatte. Später kam Lachen und Kichern
aus der Tiefe des Hauses.
Manchmal hätte ich gern gewußt, wo
in den Wänden der geschlossenen Türen, ja in der
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