Pamuk, Orhan
Decke sich das Auge des
Beobachters befand, aus welchem Winkel es mich betrachtete, mutmaßte über
Risse, Astlöcher oder auch solche, die ich dafür hielt, und stellte mir vor, Şeküre
habe sich hinter jenem Riß niedergelassen, doch gleich darauf fiel wegen nichts
und wieder nichts mein Verdacht auf einen anderen dunklen Punkt, und um
herauszufinden, ob er berechtigt war, erhob ich mich von meinem Platz, selbst
auf die Gefahr hin, meinem unaufhörlich weitersprechenden Oheim die gebührende
Achtung zu versagen, und während ich zum Beweis, daß ich ganz Ohr war für seine
Geschichte, so tat, als staunte ich und dächte nach, ging ich wie in Gedanken
verloren im Zimmer auf und ab und näherte mich jenem verdächtigen Punkt, diesem
Fleck an der Wand.
Wenn ich dort hinter dem, was ich
für ein Späherloch gehalten hatte, Şeküres Auge nicht entdecken konnte,
war ich enttäuscht. Einen Augenblick lang ergriff mich ein seltsames Gefühl des
Alleinseins, und ich wurde ungeduldig wie einer, der mit dem Leben nichts
anzufangen weiß.
Manchmal spürte ich so tief und
unversehens, daß ich von Şeküre beobachtet wurde, empfand so stark, daß
ich ihrem Blick ausgesetzt war, daß ich gewisse Allüren annahm, wie einer, der
sich vor seinem geliebten Mädchen tiefschürfender, stärker und fähiger zeigen
will, als er in Wirklichkeit ist. Dann ging mir durch den Kopf, daß Şeküre
und ihre Kinder mich mit jenem verschwundenen Vater, mit jenem Ehemann
verglichen, der irgendwie aus dem Krieg nicht zurückkommen konnte, und in
diesem Augenblick mußte ich an die verschiedenen neuen Berühmtheiten von Venedig
denken und ihre vom Oheim geschilderte Art, sich porträtieren zu lassen. Nur
weil Şeküre durch ihren Vater von ihnen wußte, wollte ich diesen neuen Größen
gleichen, deren Ruf auf einem Buch beruhte, das sie verfaßt, oder auch auf
einem Blatt, das sie mit ihrer Malerei geschmückt hatten, nicht aber einem
Heiligen, der durch seine verschiedenen Prüfungen zu Ruhm gelangt war, oder
einem verschollenen Ehemann, der solchen Ruhm all den mit der Kraft seines
Armes und der Spitze seines Schwertes abgeschlagenen Köpfen verdankte. Der
Oheim hatte diese Wunder gesehen, ich, sein Neffe, aber nicht, und nun
versuchte er, sie mir verständlich zu machen. Um aber die Bildnisse dieser
berühmten Leute, die nach Ansicht des Oheims mit einer inspirierten Kraft
gemalt worden waren, die all der offensichtlichen Finsternis dieser Welt und
ihrer dunklen Verstecke entstammte, vor meinem geistigen Auge erstehen zu
lassen, bemühte ich mich so sehr, daß ich am Ende, wenn ich mir durchaus nichts
vorstellen konnte, schier überwältigt war und mir winzig klein vorkam.
Auf einmal stand Şevket wieder
vor mir. Als er sich mir ganz zielstrebig näherte, meinte ich schon, er wolle
mir die Hand küssen, wie es bei manchen arabischen Sippen in Transoxanien und
bei den Tscherkessenstämmen des Kaukasus üblich ist, wo der älteste Sohn des
Hauses diese Ehre dem Gast nicht nur bei dessen Eintritt erweist, sondern
auch, wenn er ihn verabschiedet, und ich streckte ihm leicht verstört meine
Hand entgegen, damit er sie küßte und an seine Stirn führte. Im gleichen
Augenblick hörte ich ganz aus der Nähe Şeküres Lachen. War ich es, über
den sie lachte? Ich war erschrocken, griff nach Şevket und küßte ihn, um
die Lage zu retten, auf die Wangen, als würde es so erwartet. Währenddessen war
mir einerseits sehr wohl bewußt, daß ich meinem Oheim das Wort abgeschnitten
hatte, doch sollte ihm die Art meines Lächelns sagen, daß ich eigentlich keine
Unhöflichkeit begehen wollte, andererseits beroch ich den Jungen einmal ganz
genau, ob vielleicht eine Spur von dem Duft der Mutter an ihm hängengeblieben
war. Bis ich das Stückchen Papier bemerkte, das er mir in die Hand gedrückt
hatte, war Şevket schon längst wieder im Gehen begriffen.
Ich verbarg das Papier wie ein Juwel
in meiner fest zur Faust geschlossenen Hand. Sobald ich richtig begriff, daß
dies ein kleiner Brief von Şeküre war, hätte ich vor Glück beinahe den
Oheim mit einem törichten Lächeln bedacht. War dies nicht allein schon ein sicherer
Beweis dafür, daß Şeküre mich heftig begehrte? Auf einmal zeigte mir meine
Phantasie ganz unerwartet Şeküre und mich in einer wilden Liebesumarmung.
Und ich glaube so maßlos fest an diese Unmöglichkeit, die mir meine Einbildung
vorspielte, daß ich merkte, wie sich mein Dingsda auf ungehörige Weise in
Anwesenheit des Oheims
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