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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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aufrichtete. Hatte Şeküre das gesehen? Um meine
Aufmerksamkeit abzulenken, hörte ich lange den Schilderungen meines Oheims zu.
    Als er sich nach geraumer Zeit
vorbeugte, um mir eine weitere bemalte Seite seines Buchs zu zeigen, öffnete
ich das nach Geißblatt duftende Papierknäuel und sah ein unbeschriebenes Blatt.
Ich drehte und wendete es, weil ich nicht glauben mochte, daß es leer war.
    »Das Fenster«, sagte der Oheim. »Das
Verfahren der Perspektive anzuwenden gleicht dem Blick aus einem Fenster. Was
ist das für ein Papier?«
    »Nichts, Oheim Efendi«, gab ich
zurück, roch dann aber noch lange daran.
    Nach dem Mittagessen ließ ich mich
entschuldigen und suchte den Abtritt im Hof auf, weil ich das Nachtgeschirr des
Oheims nicht benutzen wollte. Es war eiskalt dort. Ich erledigte mein Geschäft
so schnell wie möglich, um mir nicht das Hinterteil zu erkälten, und kam
heraus, da tat Şevket, als wolle er mir den Weg abschneiden, doch auf eine
lautlose, verschlagene Art. Er hielt das volle, noch dampfende Nachtgeschirr
seines Großvaters in der Hand, betrat hinter mir den Abort und leerte es aus.
Wieder im Freien und das leere Nachtgeschirr in der Hand, blies er seine
rundlichen Backen auf und richtete seine schönen Augen geradewegs auf mich.
    »Hast du schon mal eine tote Katze
gesehen?« fragte er. Seine Nase glich der seiner Mutter. Beobachtete sie uns?
Ich schaute hoch zu dem verzauberten Fenster im oberen Stockwerk, wo ich Şeküre
nach Jahren zum erstenmal wiedergesehen hatte, doch der Laden war geschlossen.
    »Nein.«
    »Soll ich dir die tote Katze im Haus
des gehenkten Juden zeigen?«
    Ohne auf meine Antwort zu warten,
war er schon draußen und ging die Straße entlang. Ich folgte ihm. Nach vierzig,
fünfzig Schritten auf dem schmuddeligen, vereisten Weg betraten wir einen verwilderten
Garten. Ringsumher roch es nach fauligen, nassen Blättern und ein wenig auch
nach Schimmel. Weiter vorn lag ein gelbes Haus gleichsam verborgen hinter
traurigen Feigen- und Mandelbäumen, und der Junge trat mit festem, sicherem
Schritt, wie einer, der sich hier gut auskannte, durch die Tür.
    Das Haus war vollkommen leer, doch
trocken und warm, als würde hier jemand wohnen.
    »Wem gehört
das Haus?« fragte ich.
    »Den Juden. Als der Mann starb, ist
die Frau mit den Kindern in das Judenviertel beim Landesteg der Obstverkäufer
umgezogen. Jetzt lassen sie das Haus durch Ester, die Hausiererin, verkaufen.«
Er ging hinüber in eine Ecke des Zimmers und kam zurück. »Nichts mehr da. Die
Katze ist weg«, stellte er fest.
    »Können
tote Katzen weglaufen?«
    »Die Toten
wandern herum, sagt Großvater.«
    »Aber nicht
die Katzen«, meinte ich. »Geister gehen um.« »Woher weißt du das?« fragte er
und hielt dabei das Nachtgeschirr fest an sich gedrückt.
    »Ich weiß
es eben. Kommst du immer hierher?«
    »Mutter kommt mit Ester her. Nachts
soll es Gespenster geben. Aber ich fürchte mich hier nicht. Hast du jemals
einen Menschen getötet?«
    »Ja.«
    »Wie
viele?«
    »Nicht
viele. Zwei.«
    »Mit dem
Schwert?«
    »Ja, mit
dem Schwert.«
    »Gehen ihre
Geister um?«
    »Ich weiß es nicht. Den Büchern nach
müßten sie es tun.«
    »Onkel Hasan hat ein rotes Schwert.
Es schneidet bei jeder Berührung. Dann hat er noch einen Dolch mit einem Rubin
im Griff. Hast du meinen Vater getötet?«
    Ich machte eine Kopfbewegung, die
weder ja noch nein bedeuten sollte. »Woher weißt du, daß dein Vater tot ist?«
    »Mutter sagte es gestern. Er wird
nicht mehr zurückkommen. Sie hat es im Traum gesehen.«
    Die schmutzigen Geschäfte, zu denen
wir unserer Vorteile, unserer hell lodernden Leidenschaften oder der Liebe
wegen, die uns in einen Mann mit gebrochenem Herzen verwandelt, bereit sind,
möchten wir stets für einen höheren Zweck ausführen können, und so beschloß
auch ich in jenem Augenblick einmal mehr, diesen Waisen ein Vater zu sein und
deshalb nach der Rückkehr ins Haus ihrem Großvater mehr Aufmerksamkeit zu
schenken, der über das Buch sprach, dessen Bilder und Schriften vollendet werden
mußten.
    Beginnen wir bei den Bildern, die
mir der Oheim zeigte, dem Bild des Pferdes zum Beispiel: Obwohl auf diesem Bild
kein Mensch zu sehen und um das Tier herum alles frei war, hätte ich nicht
sagen können, es sei ja nichts weiter als nur ein Pferdebild. Da stand das
Pferd, und sein Reiter hatte sich doch sicherlich irgendwohin an den Rand
begeben, oder aber er würde aus irgendeinem nach der Manier von Kazvin
gezeichneten

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