Pamuk, Orhan
so vollkommen sein wie eines der alten Meister, dann muß es vorher
Tausende Male gezeichnet werden. Mag der Illustrator noch so große Fähigkeiten
haben, er wird ein neues Motiv beim erstenmal wie ein Lehrbub zeichnen – was
sich für mich auf keinen Fall schickt. Ich kann meine Meisterschaft nicht
verleugnen, wenn ich das Bild des Todes zeichne, denn das käme für mich dem
Sterben gleich.«
»Vielleicht führt dich dieses
Sterben näher an das Motiv heran«, sagte der Greis.
»Nicht das Erlebnis eines Motives
macht uns zum Meister, sondern daß wir es nie erlebt haben.«
»Dann muß sich die Meisterschaft mit
dem Tod vertraut machen.«
So vertieften sie sich in ein
erlesenes Zwiegespräch voller Doppelbedeutungen, Anspielungen, Homonomien und
Amphibolien, wie es den Buchmalern, welche die alten Meister und ihre Künste
ehren, wohl ansteht. Den ganzen Disput wiederzugeben, dem ich, da er meiner
Existenz galt, meine volle Aufmerksamkeit widmete, würde die vortrefflichen
Buchmaler in unserem Kaffeehaus langweilen, das weiß ich. Aber irgendwann kam
folgendes zur Sprache:
»Ist die Kunst eines Illustrators
daran zu messen, daß er alles mit der Perfektion der alten Meister malt, oder
daß er Motive im Bild unterbringt, die bisher niemand zu sehen bekam?« fragte
der kluge Buchmaler mit den wunderschaffenden Händen und den schönen Augen. Er
war auf der Hut, obwohl er selbst die Antwort auf diese Frage wußte.
»Die Venezianer messen das Können
eines Malers am Finden nie gezeichneter Motive und Methoden«, erklärte der
Greis beharrlich.
»Die Venezianer sterben wie
Venezianer«, meinte jener, der mich zeichnen sollte.
»Doch alle Tode gleichen einander«,
hielt der Greis dagegen.
Darauf der kluge Illustrator:
»Legende und Illustration erzählen nicht von der Gleichheit aller, sondern von
ihrem Anderssein. Der Meisterillustrator wird dadurch zum Altmeister, daß er
die einander in nichts gleichenden Legenden für uns so zeichnet, als glichen
sie einander.«
Damit kam das Gespräch auf den Tod
der Venezianer und der Moslems, auf den Todesengel Azrail und die anderen Engel
Allahs und darauf, daß man sie auf keinen Fall mit den Gemälden der Ungläubigen
durcheinanderbringen dürfe. Der junge Meister, der mich bald darauf zeichnen
sollte und mich in diesem Augenblick hier in unserem Kaffeehaus mit seinen
schönen Augen anschaut, war der großen Worte überdrüssig, seine Hand wurde
ungeduldig, er wünschte, mich zu zeichnen, wußte aber nicht, was und wie ich
war.
Der verschlagene Greis, der den
jungen Meister überreden wollte, spürte dies. Seine Augen glänzten im Licht der
Öllampe, die umsonst gegen die Schatten im Raum ankämpfte, und er richtete den
Blick auf den jungen Meister mit den wunderschaffenden Händen.
»Der Tod, den die Venezianer als
Menschen abbilden, ist ein Engel wie unser Azrail«, sagte er, »doch im
Menschengewand. Genauso wie der Erzengel Gabriel unserem Propheten in Menschengestalt
erschien, als er ihm den Koran überbrachte. Verstehst du?«
Ich begriff, daß der junge, von
Allah mit einem unglaublichen Talent begabte Meister ungeduldig war und mich
zeichnen wollte. War es doch dem diabolischen Alten gelungen, in jenem diese
diabolische Idee zu erwecken: Wir möchten im Grunde genommen das Zwielichtige,
Unbekannte zeichnen und nicht das Bekannte, das im hellen Licht steht.
»Ich kenne den Tod doch nicht im
geringsten«, sagte der Illustrator, der mich bald darauf zeichnen sollte.
»Wir alle kennen den Tod«, sagte der
Alte.
»Wir fürchten ihn, doch wir kennen
ihn nicht.«
»Dann zeichne diese Furcht«, sagte
der Alte.
Fast hätte er mich in jenem
Augenblick gezeichnet. Ich ahnte, wie es den großen Meister im Genick
kribbelte, wie sich die Muskeln seiner Arme strafften und seine Fingerspitzen
nach dem Rohrstift tasteten. Weil er jedoch ein wirklich großer Meister war,
spürte er, daß diese Spannung die Liebe zum Malen in seiner Seele vertiefen
würde, und hielt sich zurück.
Und weil der schlaue Greis auch dies
erkannte, las er zur Inspiration für das Bild von mir, das, dessen war er sich
sicher, bald darauf entstehen sollte, aus den vor ihm liegenden Büchern, dem Kitab-ur
Ruh des Al-Dschauzijja, aus den Schriften des Gazzali, aus dem Kitab-ül
Ahval-ül Kiyamet und aus dem Buch des Suyuti Abschnitte über den Tod vor.
Auf diese Weise hörte der Meister
mit den wunderschaffenden Händen, während er mein Bild zeichnete, das ihr nun
mit Entsetzen betrachtet, daß
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