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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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habe, kann ich die inneren
Teufel und Dämonen nicht mehr im Zaum halten. Sie zappeln so wild herum, daß
ich mir sage, vielleicht werden sie ruhiger, wenn ich ein wenig hinausgehe.
    Danach fand ich mich, wie immer ohne
zu wissen, wie es geschah, draußen in den Straßen wieder. Ich ging sehr rasch.
Unaufhaltsam lief ich vorwärts, über verschneite Straßen, schlammige
Durchgänge, vereiste Abhänge und Gehsteige, die niemand benutzte. Je weiter
ich lief und in das Dunkel der Nacht, in die öden, menschenleeren Winkel der
Stadt eintauchte, desto mehr blieb meine Sünde nach und nach hinter mir zurück;
je länger meine Schritte in den engen Straßen von den Wänden der steinernen Karawansereien,
Medresen und Moscheen widerhallten, desto leichter wogen meine Ängste.
    Jede Nacht trugen mich meine Füße
wie von selbst in dieses Vorstadtviertel hier, in seine verlassenen Straßen,
wohin sich sogar Gespenster und Dämonen nur mit Schaudern wagten. Man sagte,
die Hälfte der Männer dieses Viertels sei in den Perserkriegen gefallen, die
andere Hälfte habe es verlassen, weil es unter einem Unstern stehe, doch ich
glaube nicht an solche Dinge. Die einzige Katastrophe, welche die Perserkriege
in dieses schöne Viertel brachten, spielte sich vor vierzig Jahren ab, als man
vorgab, das Haus der Kalenderi-Derwische sei eine Brutstätte des Feindes, und
das Tor mit eisernen Ketten verschloß.
    Ich schlängelte mich vorbei an
Brombeersträuchern und Lorbeergebüsch, das selbst in der Kälte noch duftete,
stellte die Bretter zwischen dem eingestürzten Rauchabzug und dem Fenster,
dessen Laden heruntergefallen war, sorgfältig wie immer der Reihe nach auf und
schlüpfte hinein. Drinnen sog ich den hundertjährigen Duft von Räucherwerk und
Schimmel in meine Lungen. Es machte mich so glücklich, hier zu sein, daß ich
meinte, mir kämen die Tränen.
    Falls ich noch nicht gesagt haben
sollte, daß ich niemanden fürchte außer Allah und in meinen Augen die einen
hier auf Erden ereilende Strafe keine zwei Para wert ist, dann will ich's
hiermit sagen. Meine Furcht gilt den Martern, die wir am Jüngsten Tag noch und
noch erleiden werden, wie es im Koran, zum Beispiel in der Sure Al-Furkan, für
Mörder wie mich ganz eindeutig bestimmt worden ist. Wann immer mir die
schäbigen, nur selten in meine Hände gelangenden Bücher, die die kindlich
einfachen, doch erschreckenden Höllenansichten vor Augen führen, welche die
alten arabischen Illustratoren auf Leder malten, oder die Farben und die Gewalt
dieser Strafen, die, warum auch immer, an die Folterungen der Dämonen erinnern,
welche die chinesischen und mongolischen Altmeister zeichneten, dann kann ich
nicht umhin, mich mit dieser Schlußfolgerung herauszureden: Was sagt die Sure
Isra im dreiunddreißigsten Vers? Sagt sie nicht: Tötet die Seele, die Allah zu
töten verbot, nicht ohne gerechten Grund? Nun gut, also dann: Der gemeine
Kerl, den ich zur Hölle schickte, war keiner der Gläubigen, die Allah zu töten
verbot, und ich hatte auch sehr berechtigte Gründe, ihm den Schädel
einzuschlagen.
    Dieser Mann hatte uns, die wir an jenem
geheimen Buch für den Padischah arbeiten, tief gekränkt. Und hätte ich ihm
nicht das Maul gestopft, dann hätte er womöglich den Oheim Efendi, sämtliche
Illustratoren, ja selbst den Altmeister Osman zum Ketzer erklärt und den
wütenden Anhängern des Hodschas aus Erzurum zum Fraß vorgeworfen. Wenn die
Leute des Erzurumers nur einmal laut zu hören bekommen, daß die Illustratoren
dem Unglauben frönen, dann werden sie, die ja stets nach einem Vorwand suchen,
ihre Macht zu zeigen, nicht nur uns, die Meisterillustratoren, sondern die
ganze Buchmalerwerkstatt zusammenschlagen, und selbst unser Padischah wird nur
stillschweigend zuschauen.
    Wie jedesmal, wenn ich hierherkomme,
holte ich Besen und Lappen aus meinem Versteck, fegte aus und wischte auf. Mir
wurde innerlich warm bei dieser Tätigkeit, sie gab mir das Gefühl, Allahs
guter Knecht zu sein. Ich betete lange zu ihm, dem Allmächtigen, damit er mir
dieses Gefühl, gut zu sein, nicht versagte. Eine Kälte, die Füchse Kupfer
scheißen läßt, drang mir ins Mark; jener heimtückische Schmerz meldete sich in
meiner Kehle. Ich ging hinaus.
    Gleich darauf abermals jener
seltsame Zustand des Gemüts: Ich fand mich in einem ganz anderen Viertel
wieder. Was zwischen hier und dem von der Sekte verlassenen Viertel geschah, was
ich dachte und auf welche Weise ich in diese auf beiden Seiten mit

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