Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
Vom Netzwerk:
Zypressen
gesäumten Straßen kam, das weiß ich nicht.
    Doch so weit ich auch gehe, es gibt
einen Gedanken, den ich nicht abschütteln kann, der wie ein Wurm in meinem
Inneren nagt, und vielleicht wird mir leichter, wenn ich es euch sage. Ob ich
ihn den niederträchtigen Denunzianten oder den armen Fein Efendi nenne – beides
kommt auf das gleiche hinaus: Während er, der dahingegangene Illuminator, kurz
bevor er dahinging, den Oheim heftig beschuldigte, hat er mir noch etwas
mitgeteilt. Als er sah, wie wenig ich von seiner Mitteilung, der Oheim Efendi
benutze in sämtlichen Bildern die Perspektive nach Art der Gottlosen,
beeindruckt war, sagte der Schuft noch: »Es gibt ein letztes Bild, auf dem der
Oheim über alles lästert, woran wir glauben. Was er da tut, ist Ketzerei, ist
Lästerung!« Drei Wochen vor dieser Verleumdung hatte mir der Oheim Efendi
tatsächlich aufgetragen, in die verschiedenen Ecken eines Bogens, wie es bei
einem fränkischen Bild der Fall wäre, verschiedene Figuren wie Pferd, Münze,
Tod in erstaunlich unterschiedlichen Ausmaßen zu malen. Auf der Seite, die ich
bemalen sollte, war ein großer Teil des bereits gerahmten und von dem armen
Fein Efendi golden illuminierten Ausschnitts stets mit einem Stück Papier
abgedeckt, als sollte dort etwas vor mir und den anderen Illustratoren
verborgen bleiben.
    Ich möchte den Oheim fragen, was er
auf diesem letzten großen Bild gemalt hat, doch vieles hält mich davon ab. Wenn
ich ihn frage, wird er natürlich vermuten, daß ich den Fein Efendi umgebracht
habe, und jedem diesen Verdacht mitteilen. Außerdem fürchte ich, daß der Oheim,
wenn ich ihm jene Frage stelle, sagen würde, der Fein Efendi habe recht gehabt.
Manchmal meine ich, so fragen zu müssen, als sei es meine eigene Einbildung und
nicht ein vom Fein Efendi übernommener Verdacht, doch das verringert meine
Ängste nicht. Vielleicht ist es weniger schrecklich, gegen den Glauben zu
handeln, wenn man nichts davon ahnt, doch ich bin mir jetzt all dieser Dinge
bewußt.
    Meine Beine, die immer klüger sind
als mein Kopf, haben mich ganz von selbst in die Straße geführt, in der das
Haus des Oheim Efendi liegt. Ich habe mich in einer Ecke verkrochen und, soweit
ich's im Dunkeln ausmachen konnte, das Haus lange beobachtet. Das große,
zweistöckige und merkwürdige Haus eines Reichen unter den Bäumen! In welchem
Teil des Hauses sich Şeküre befindet, weiß ich nicht. Ich versuchte, mir
in meiner Phantasie auszumalen, hinter welchem Fensterladen ich Şeküre auf
welche Weise sehen würde, wenn das Haus gleichsam mit dem Messer aufgeschnitten
erschiene, wie es auf manchen Bildern aus der Zeit des Schah Tahmasp in Täbris
zu sehen ist.
    Die Tür ging auf. Ich sah, wie Kara
im Dunkeln aus dem Haus kam. Der Oheim bedachte ihn vom Hoftor aus mit einem
liebevollen Blick und schloß die Tür.
    Selbst mein Verstand, der sich doch
so törichten Vorstellungen hingegeben hatte, zog von sich aus augenblicklich
aus dem, was ich sah, diese drei schmerzlichen Schlußfolgerungen:
    Erstens: Weil Kara billiger und
weniger gefährlich war, würde der Oheim Efendi das Buch, unser Buch, von ihm
vollenden lassen.
    Zweitens: Die schöne Şeküre
würde sich mit Kara vermählen.
    Drittens: Was der arme Fein Efendi
gesagt hatte, war richtig gewesen. Ich hatte ihn ganz umsonst umgebracht.
    In einer solchen Lage, wenn unsere
mitleidlose Vernunft ein bitteres Ergebnis aufdeckt, das unser Herz nicht
wahrhaben will, dann bäumt sich unser ganzer Körper dagegen auf. Die eine
Hälfte meines Verstandes stemmte sich zunächst mit aller Kraft gegen die
dritte Folgerung, die mich ganz umsonst zu einem gemeinen Mörder machte.
Inzwischen hatten meine Beine wieder schneller und logischer gehandelt als mein
Kopf und mich bereits auf die Spur des Kara Efendi gesetzt.
    Wir hatten so manche Straße hinter
uns gebracht, als ich überlegte, wie leicht es für mich sein würde, Kara zu
töten, der mit dem Leben und sich selbst zufrieden vor mir herlief, und daß
diese Tat mich von der Auseinandersetzung mit den ersten beiden Schlußfolgerungen
meines Verstandes, die meine Seele bedrückten, befreien würde. Außerdem hätte
ich dann den Schädel des armen Fein Efendi nicht ganz umsonst eingeschlagen.
Wenn ich jetzt acht bis zehn Schritte schneller laufen. Kara einholen und ihm
von hinten mit all meiner Kraft einen Schlag auf den Kopf versetzen würde, dann
würde alles wie bisher weitergehen und der Oheim Efendi mich rufen, damit

Weitere Kostenlose Bücher