Pamuk, Orhan
wir
unser Buch beendeten. Aber eine mehr redliche und bedächtige Seite meines
Verstandes (Redlichkeit ist doch ohnehin fast nie etwas anderes als Feigheit,
oder?) sagte immer noch zu mir, daß der gemeine Kerl, den ich totgeschlagen und
in den Brunnen geworfen habe, ein Verleumder gewesen ist. Und wenn das stimmte,
dann hatte ich ihn nicht umsonst umgebracht, in dem Buch, das der Oheim
anfertigte, gab es nichts zu verheimlichen, und er würde mich zu sich rufen.
Doch während ich zu Kara hinsah, der
vor mir herging, begriff ich sogleich, daß sich nichts davon erfüllen würde.
Alles war Einbildung. Kara war wirklicher als ich. Wie es uns allen geschieht:
Manchmal meinen wir, logisch zu denken, und machen uns wochenlang, jahrelang
etwas vor, um dann eines Tages etwas zu erblicken, ein Gesicht, ein Kleid,
einen glücklichen Menschen, und auf einmal zu begreifen, daß unsere Phantasien
niemals wahr werden können, daß man uns zum Beispiel jenes Mädchen niemals
geben wird oder daß es uns niemals möglich sein wird, in diese oder jene
Position aufzusteigen.
Ich blickte auf Karas Kopf, seinen
Nacken, die sich hebenden und senkenden Schultern, seinen äußerst aufreizenden
Gang – er ging, als gewähre er wohlwollend seine Schritte der Welt –, und mein
Herz wurde warm umflutet von einem tiefen Haß. Weit entfernt von
Gewissensqualen, vor sich eine glückliche Zukunft, so meinen Leute wie Kara,
die ganze Welt sei ihr Zuhause, öffnen jede Tür wie ein Padischah, der seinen
eigenen Stall betritt, und uns, die sich im Innern befinden, verachten sie
sofort. Ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, einen Stein aufzuheben und
auf seinen Kopf niedersausen zu lassen.
Wir, zwei Männer, beide derselben
Frau verfallen, er vor mir und ich hinter ihm, ohne daß er's im geringsten
merkt, so schlängeln wir uns durch die Straßen von Istanbul, auf und ab, und
während wir als Brüder durch öde Gassen gehen, die den kämpfenden Hundemeuten
gehören, über Brandstätten, wo Dämonen lauern, durch die Höfe der Moscheen, an
deren Kuppeln sich die Engel im Schlafe schmiegen, vorbei an Zypressen, die
murmelnd mit den Seelen reden, an schneebedeckten, von Gespenstern wimmelnden
Friedhöfen entlang, dicht vorbei an Räubern, die ihr Opfer an der Kehle
packen, an zahllosen Läden, Ställen, Derwischkonventen, Wachsfabriken,
Sattlerwerkstätten entlang und zwischen Mauern hindurch, da kommt mir der
Gedanke, daß ich ihn nicht verfolge, sondern nachahme.
24
Mein Name ist Tod
Ich bin der Tod, wie ihr seht, doch ihr müßt euch
nicht fürchten, denn ich bin nur ein Bild. Trotzdem lese ich die Furcht vor mir
in euren Augen. Obwohl ihr doch wißt, daß ich nicht wirklich bin, seid ihr wie
ins Spiel vertiefte Kinder so entsetzt, als wäret ihr dem Tode selbst begegnet – was mir gefällt! Ihr spürt bei meinem Anblick, daß ihr, wenn diese
unvermeidliche letzte Stunde hereinbricht, alles unter euch lassen werdet. Das
ist kein Scherz. Es ist vor allem der größte Teil der löwenherzigen Männer, der
bei der Begegnung mit dem Tod alles von sich gibt. Aus diesem Grund stinken die
leichenbedeckten Blachfelder nicht, wie angenommen, nach Blut, Schießpulver
und glühend gewordenem Rüstzeug, sondern nach Scheiße und faulendem Fleisch.
Ich weiß, ihr habt zum erstenmal ein
Bild des Todes gesehen.
Vor nunmehr einem Jahr ließ ein
rätselhafter, hochgewachsener feiner Greis den jungen Meisterillustrator, der
mich malen sollte, zu sich nach Hause kommen. In dem dämmrigen Arbeitszimmer
des zweistöckigen Hauses bot er dem jungen Maler einen ambraduftenden,
seidigen Kaffee an und klärte damit dessen Verstand. Danach führte er ihn zu
der Kammer voller Schatten hinter der blauen Tür, zeigte ihm dort die besten
indischen Papiere, Pinsel aus Eichhörnchenhaar, Blattgold, viele verschiedene
Rohrstifte und Anspitzmesser mit Korallengriff, deutete an, daß er ein gutes
Entgelt zahlen würde, und weckte so die Lust des Buchmalermeisters.
»Zeichne mir das Bild des Todes«,
sagte er dann.
»Ohne je im Leben ein Bild des Todes
gesehen zu haben, kann ich den Tod nicht zeichnen«, erwiderte der Illustrator
mit den Wunderhänden, der später mein Bild schaffen sollte.
»Um etwas zeichnen zu können, muß
man doch nicht unbedingt vorher dessen Bild gesehen haben«, sagte der feine,
von seinem Wunsch ganz besessene Alte.
»Nun ja, es muß vielleicht nicht
sein«, gab der Meisterillustrator zu, der mich dann gezeichnet hat. »Soll das
Bild aber
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