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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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das noch unvollendete Bild unseres Padischahs
gezeigt? Dieses Bildnis, sagte er, würde so überzeugend sein, daß alle, die es
sahen, gleich denen, die versuchten, unserem Padischah gerade in die Augen zu
blicken, von Furcht ergriffen die Augen abwenden müßten.
    Ich rief Orhan zu mir und küßte ihn
ausgiebig auf den Kopf und die Wangen, ohne ihn auf den Schoß zu nehmen. »Jetzt
wirst du dieses Papier ganz schnell Kara geben, ohne dich zu fürchten und ohne
es Großvater merken zu lassen. Verstanden?«
    »Mein Zahn wackelt.«
    »Wenn du magst, ziehe ich ihn dir,
nachdem du zurück bist«, versprach ich. »Du schmiegst dich an ihn, er wird
erstaunt sein und dich umarmen. Dann steckst du ihm unauffällig das Papier in
die Hand. Verstanden?«
    »Ich habe Angst.«
    »Du mußt keine Angst haben. Weißt
du, wer, falls es nicht Kara ist, an seiner Stelle dein Vater sein will? Onkel
Hasan! Möchtest du Onkel Hasan zum Vater haben?«
    »Nein, möchte ich nicht.«
    »Also dann, mein hübscher, kluger
Orhan«, sagte ich. »Und schau mal, wenn du's nicht tust, werde ich mich auch
ärgern ... dann weinst du, und ich ärgere mich noch mehr.«
    Ich stopfte ihm die winzig klein
gefaltete Nachricht in sein Händchen, das er mir artig und schicksalsergeben
entgegenstreckte. Allahim, flehte ich, hilf uns, daß keine Waise schutzlos
bleibt! Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn zur Tür. An der Schwelle
schaute er ein letztes Mal furchtsam zu mir auf.
    Zurück in meinem Winkel, sah ich
durch das Loch im Schrank, wie er mit schüchternen Schritten über den Flur
ging, sich meinem Vater und Kara näherte, anhielt, einen Augenblick unsicher
verharrte, sich suchend nach mir umsah und kurz zu dem Loch hinblickte. Er begann
zu weinen. Dann aber gelang es ihm mit letzter Mühe, sich Kara in den Schoß zu
werfen. Doch Karas Verstand war so rege, daß er zu Recht der Vater meiner
Kinder sein durfte, und er zeigte keine Bestürzung, als er Orhan auf seinem
Schoß sah und nicht wußte, warum der Junge weinte, sondern tastete nach dessen
kleiner Hand.
    Sowie Orhan unter den verwirrten
Blicken meines Vaters zu mir zurückkam, nahm ich ihn auf den Schoß, gab ihm
viele Küsse, brachte ihn hinunter in die Küche, füllte ihm den Mund mit seinen
geliebten Rosinen und sagte: »Hayriye, nimm die Kinder, geh mit ihnen zum
Galeeren-Hafen, dort kauft ihr bei Kosta einen Kefal für Vaters Fischsuppe. Nimm
diese zwanzig Asper und kaufe für das, was von dem Geld übrigbleibt, auf dem
Rückweg gelbe Feigen und gedörrte Kornelkirschen, die Orhan so mag. Und für Şevket
nimmst du geröstete Kichererbsen und den Strang mit Traubensirup und Walnüssen.
Lauf bis zum Abendgebet mit ihnen herum, soviel sie wollen, doch paß auf, daß
sie sich nicht erkälten.«
    Es herrschte eine angenehme Stille,
nachdem sie sich angezogen und das Haus verlassen hatten. Ich ging wieder nach
oben, holte den Spiegel, das Werk meinen Schwiegervaters und Geschenk meines
Ehemannes, aus dem Versteck zwischen den lavendelduftenden Kissenbezügen
hervor und hängte ihn auf. Als ich aus einiger Entfernung in den Spiegel
schaute, konnte ich, wenn ich mich hin und her bewegte, meinen ganzen Körper in
Fragmenten sehen. Die Weste aus feinem rotem Tuch stand mir gut, doch darunter
wollte ich auch das purpurne Hemd tragen, das mir meine Mutter aus ihrer eigenen
Aussteuer gegeben hatte. Ich holte die grünliche, von meiner Großmutter mit
Blumen bestickte Jacke aus der Truhe und zog sie über, aber das stand mir
nicht. Als ich das purpurne Hemd anzog, erschauerte ich, und mit mir zitterte
die Flamme der Kerze. Zuletzt würde ich natürlich mein rotes Überkleid mit dem
Futter aus Fuchsfell anziehen, doch ich änderte meinen Entschluß im letzten
Augenblick, schlich lautlos über den Flur, holte das himmelblaue, lange und
sehr weite wollene Überkleid aus der Truhe, das mir meine Mutter überlassen
hatte, und legte es an. Doch gerade da hörte ich Stimmen an der Tür und
erschrak plötzlich: Kara geht! Sofort zog ich Mutters altes Überkleid wieder
aus und das rote mit dem Fuchsfellfutter an. Es spannte um die Brüste, doch das
gefiel mir. Dann hüllte ich meinen Kopf in den zartesten, weißesten Schleier
und zog ihn tief über mein Gesicht.
    Kara Efendi war natürlich noch nicht
gegangen, meine Erregung hatte mich getäuscht. Wenn ich jetzt hinausgehe, sage
ich später, ich sei zum Fischeinkauf für Vater und die Kinder unterwegs gewesen.
Wie eine Katze glitt ich die Treppe hinab.
    Wie

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